Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

   

▶ Spracherwerb: Erste Sprache, zweite Sprache


Spracherwerb führt zum angemessenen, zweckgerechten, unauffälligen Gebrauch einer Sprache. Gemeint ist nicht: Sprache im Sinne der Normen oder ein virtuoser Umgang mit sprachlichen Formen.
Die meisten Menschen entwickeln - weltweit gesehen - mehr als eine solche Sprachform. Wird eine weitere Sprache zeitlich versetzt zur ersten und im wesentlichen ungesteuert in der Kommunikation mit Sprechern dieser Sprache erworben, spricht man von Zweitspracherwerb. Zweitspracherwerb kann zu Bilingualismus in unterschiedlicher Ausprägung führen. Erfolgt der Zugang über formalen Unterricht, gar noch in einem Land, in dem diese Sprache nicht gesprochen wird, ist dies Fremdsprachenerwerb oder -lernen.

Die Chomsky-Schule nimmt an, dass der Erstspracherwerb und ebenso der frühe Zweitspracherwerb auf der Basis der Universalgrammatik erfolgt. Kern der Sprache sei die Syntax (die Kombinatorik mit der Möglichkeit von Schleifen: z.B. kann ein Relativsatz in einen Relativsatz, der wieder in einen Relativsatz etc. eingebettet werden, so weit das noch verstehbar ist; man spricht von "Rekursion"). Die Syntax sei sehr komplex, werde außerordentlich schnell und ohne zureichenden Input (der Lerner 'wisse mehr', als er gehört haben kann ("Platons Problem") gelernt. der Lerner lerne nicht, was nicht geht, die Umgebung spreche recht fehlerhaft). Die Sprachentwicklung sei daher nicht über die gängigen Lernverfahren wie Hypothesenbildung, Nachahmung etc. zu erklären, sondern im Kern nur durch eine angeborenes, sprachspezifisches Modul, ein Sprachgen etwa. Dieses Modul enthalte schon die Weichenstellungen für alles, was als menschliche Sprache vorkommen können (Prinzipien), nur sind auf Basis der Sprache der Umgebung dann noch die Schalter für die Umgebungssprache einzustellen (Fixieren der Parameter).

Universalgrammatik: Prinzipien & Parameter-Modell (Chomsky)

Wenn das so ist, müssten die Sprachentwicklungsphasen bei allen Lernern gleich sein. Man kann nun bestimmte Phasen im Grammatikerwerb unterscheiden, findet aber doch ein erhebliches Maß an Variation. Hier Phasenansätze für das Deutsche und das Englische. Auf der Basis der Arbeiten von Clahsen hat Grießhaber im Rahmen eines DAZ-Projekts syntaktische Erwerbsstufen für eine Profilanalyse  eingesetzt. Sind solche Phasen implikativ angesetzt, eine Phase x setzt das Durchlaufen der vorhergehenden x-1 sachlogisch voraus, wird die Sequenz zwangsläufig so durchlaufen.
Allerdings muss auch bei Annahme einer Universalgrammatik der Wortschatz, der Bereich des Irregulären (starke Verben im Deutschen z.B.) und Randständigen schlicht gelernt werden. Die Diskussion ging dann darum, ob es eine kritische Erwerbsphase gibt, in der die Universalgrammatik noch greift und der Erwerb erleichtert wird; heute rechnet man mit einer solchen Phase bis etwa 7-9 Jahren. Und ob irgendwann der Zugang zur Universalgrammatik abgeschnitten ist, so dass der Zugang zur Zweitsprache über Lernstrategien erfolgt.
Eine Theorie zum Verhältnis von Erwerben und Lernen hat Stephen Krashen vorgelegt, die "Monitor-Theorie".

Anders funktionale Ansätze zum Spracherwerb. Die sprachliche Ontogenese ist konstituiert durch zwei gegenläufige Bewegungen, die zeitversetzt auftreten:
- den Weg von der komplexen, in einem spezifischen Handlungsrahmen rezipierten und verarbeiteten Lautgebärde zur sinnhaften - zunächst partiellen, dann vollständigeren - Reproduktion;
- den Weg vom Nebeneinander einzelner Prozeduren zum Miteinander syntaktischer Kombination zu spezifischen Zwecken.
Im Rahmen einer funktionalen Grammatik ist ein Nacheinander von Ausdrücken als Realisierung einer funktionalen Einheit zu verstehen ist, in der sie einen je spezifischen Beitrag leisten (A unterstützt die Funktion von B, A und B bilden eine Funktionseinheit etc.) und strukturbildend sind. Das Nacheinander ist also als Miteinander zu begreifen.


Sprache wird im Medium Sprache, in seiner Praxis gelernt, zunächst in Dyaden mit Bezugspersonen, dann in größeren Gruppen. Das Lernen ist immer schon Teilnahme an Kommunikation, es stützt sich auf vorgegebene, ganzheitlich wahrgenommene Äußerungseinheiten. Sie enthalten variable Positionen, die zu erkennen und später durch einzelne Ausdrücke probeweise, nach längerer Zeit auch angemessen mit den notwendigen formalen Korrespondenzen vom Kind zu füllen sind (Details: Tomasello 2003, für den die Möglichkeite, Intentionen zu teilen und an kultureller Tradition teilzuhaben, entscheidend ist). Der Kombinatorik gehen insbesondere singuläre Prädikationen und Zeigwörter voran, operative Prozeduren entwickeln sich später. Dass Ausdrücke desselben Typs funktional ausdifferenziert erscheinen können (Gegenstandsbezug versus Prädikation) ist eine relevante Erfahrung, die das Wissen um entsprechendes Ausdrucksklassen anbahnen kann: Substantive, die eine Gegenstandsart bezeichnen, Verben, die primär dynamisch-prozessuale Verhältnisse ausdrücken, die Verbindung beider. Möglich wird damit ein gegliederter Ausdruck von Szenen oder Ereignissen, wie er als propositionale Grundstruktur typisch ist für Sprache.

Wichtig ist nicht nur der Grammatikerwerb, entscheidend ist die Wortschatzentwicklung inder ersten und zweiten Sprache.

Zweitsprachen entwickeln sie nach Bedarf und Motivation unterschiedlich weit, öfter ohne die zugehörige Schrift zu beherrschen (Es sind auch nicht alle Sprachen verschriftet). Maßstab ist nicht die schulische Abweichungsperspektive oder was in Regelwerken steht, sondern eine kommunikativ-praktische Funktionalität (Angemessenheit, Reichweite etc.).

Alter, Dauer und Häufigkeit des Zugangs zu kommunikativen Praktiken, sozialer Bedarf, Motivation und Einstellung zur (Zweit-/Fremd) Sprache sind zentrale Faktoren des Lernerfolgs. Beispiel: Bei Kindern finden wir einen unmittelbareren kommunikativen Zugang, wenig Fehlerhemmungen, eine noch nicht fest geprägte Identität, starke soziale Motivation und kaum ein Einfrieren des Zweitspracherwerbs wie bei Erwachsenen der ersten Generation. Erwachsene beobachten sich stärker beim Sprechen, bilden expliziter Pläne aus, wenn sie unsicher sind, möchten Fehler vermeiden und das eigene Image bewahren.

Der Zweitspracherwerb ist variabel in Prozessverlauf und Tempo. Am Anfang und lange parallel finden wir verstärkten Gebrauch nonverbaler Mittel (Gestik vor allem) und die Nutzung geteilter Wahrnehmung. Der eigentliche Erwerb setzt meist bei festen Formen an, in der Sprache frequenten Schemata mit Slots, die kommunikativ nutzbar sind. Zerlegen und Zusammensetzen von Wortgruppen und Satzteilen kommen erst später. In frühen Lernersprachen dominiert das Symbolfeld mit nennenden, charakterisierenden Ausdrücken (Subst., Adj., Verben), es finden sich auch Zeigwörter wie ich oder da. Operativ-grammatische Mittel (Flexion, Artikel, Anaphern (er,sie, es) etc. erscheinen später. Das Thematische, Bekannte geht dem Neuen, Gewichtigen, Relevanten stets voraus. Zugang zur Kommunikation mit Erstsprachlern führt zu weiterer Entwicklung über einfachere Äußerungen hinaus: Es können Textarten wie das Erzählen schrittweise erschlossen werden, die Kompetenz Anderer zur eigenen Verbesserung genutzt werden, Sprecher können an Scherzkommunikation teilhaben etc. Schließlich kann der Weg in die Schriftkommunikation gesucht werden, zuerst nach der Alphabetisierung über einfache Texte, später schaffen manche auch den Umgang mit institutionellen Schriftformen. So werden sie sprachlich Mitglieder, deren Kommunikationsbeiträge in der Form recht unauffällig geworden sind.
Man kann die verschiedenen Stadien als Abfolge von Lernervarietäten, denen bestimmte Lernergrammatiken entsprechen beschreiben. Der "Interlanguage-Ansatz" von Selinker gibt eine Charakterisierung des Prozesses durch Zwischenstadien ("interlanguages") auf dem Weg zur Zielsprache, die selten (5%) erreicht wird. Der Lerner bildet unbewusst Hypothesen, um seine Sprachproduktion mit der Zielsprache in Übereinstimmung zu bringen. Dittmar und Klein haben für die Entwicklungsstadien Varietätengrammatiken geschrieben.

  

 

Vorhandenes (Sprach-) Wissen beeinflusst hinzukommendes Wissen.
Zuvor gelernte Sprachen beeinflussen den Erwerb weiterer Sprachen, je später der erfolgt. Dabei spielen Nähe bzw. Distanz der Sprachen eine Rolle in der Entwicklung des Sprachwissens: Werden Laute, Töne der Zweitsprache erstsprachlich ersetzt? Werden Satzstrukturen der ersten in der zweiten Sprache nachgebildet? Allerdings lässt sich aus dem Sprachenvergleich nicht unmittelbar vorhersagen, welche Fehler ein Lerner macht (Dies hat die "Kontrastive Hypothese in der starken Version" angenommen.) Man kann nur nachträglich eine Fehlererklärung versuchen. Allerdings werden Formen nicht direkt übertragen, sondern vermittelt über eine Wissensverarbeitung, so dass ein Transfer an der Oberfläche oft nicht leicht erkennbar ist.
Die am besten entwickelte Sprache ist von Bedeutung für die kognitive Entwicklung, Zugänge zu weiteren Sprachen können von fortgeschrittener kognitiver Entwicklung profitieren.

Früher Zweispracherwerb - genauer: paralleler/ simultaner Erwerb von zwei Erstsprachen, beginnend schon in den ersten Lebensjahren - führt (über normale Phasen des Mischens) zu stärkerer Integration in den Verarbeitungszentren (bes. im "Broca-Areal") des Gehirns (was Weinreichs „coordinate bilingualism“ entspricht). Wichtig ist, dass die Bezugspersonen jeweils ihre Muttersprache dem Kind gegenüber gebrauchen, um ein gutes Modell zu liefern ("One person, one language" (Ronjat)).
Stärker konsekutiver Erwerb (Zweitspracherwerb setzt lange nach dem Erstpracherwerb ein) führt zu stärker getrennten Systemen, was ebenfalls durch bildgebende Verfahren in der Hirnforschung nachgewiesen ist.

Zweitsprachliche Strukturen können an erstsprachliche mental angedockt sein. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wichtig ist die ausreichende Entwicklung der Erstsprache, jede Sprache bedeutet einen Bereicherung, jede lässt die Welt etwas anders sehen. Die Erstsprache sollte auch schulisch unterstützt werden (Migrationssprachen als ordentliches Schulfach).

Je nach Famiensprache(n), Sprachen der Umgebung und in wichtigen Institutionen lassen sich interschiedliche Typen von Mehrsprachigkeit unterscheiden (ausgeführt bei Romaine 1985). Wichtig ist auch, die Migrantengeneration einzubeziehen.

Generationen: Typische Verläufe von Erwerbsprozessen

I. Generation
Die erste Generation kommt auf Anforderung im Alter von ca. 20-40 Jahren ins Land, um zu arbeiten, wo sie gebraucht wird. Oft kommen ungelernte Arbeitsmigranten. Sie lernen die zweite Sprache überwiegend ungesteuert in der Umgebung, am Arbeitsplatz und beschränken sich öfter auf solche praktischen Anforderungen, entwickeln also keine Schriftkompetenz in der Zweitsprache (L2). Denk- und Handlungssprache bleibt die Erstsprache (L1), in der auch Medien (Zeitungen, Videos, V) konsumiert werden.

Zugleich kommen Vermittler ins Land, die für praktische Zwecke rascher die Zweitsprache erwerben und dann übersetzen, Landsleute vertreten, Geschäfte betreiben etc.

II. Generation
Die folgende Generation umfasst die Kinder. Sie können erst später (ab 6. Jahren) ins Land kommen (IIA), was manchmal zu Schwierigkeiten mit der Zweitsprache führt. Öfter bringen sie eine schon weiter entwickelte erstsprache mit, die aber fortentwickelt werden sollte (Kommunikation, möglichst Schriftlichkeit).  Die L2 kann manchmal mit Problemen behaftet sein (Aussprache insbesondere), kann aber auch zu einer Denksprache ausgebildet werden. Das Aufwachsen im neuen Land (IIB) kann zu voller Zweisprachigkeit (mündlich wie schriftlich - oft fehlt es aber an hochsprachlicher und schriftlicher Kompetenz in der L1) - führen, man spricht auch von zwei Erstsprachen. Sehr sehr selten nur - unter speziellen Bedingungen - kommt es zu defizitärer Entwicklung, die eine nicht umfassende Zweitsprache (Wortschatz, Schriftlichkeit) in der Zweitsprache bringt. Häufig wird die Erst- und Familiensprache weniger gut ausgebaut, es entwickelt sich eine von der Ausgangssprache entferntere Varietät. Oder die L1 wird nahezu verdrängt, was als Komepetenzverlust durchaus problematisch ist - aber auch durch das weniger hohe Prestige einiger Migrationssprachen bedingt erscheint (prestigefördernd wäre, sie als Schulsprachen zu etablieren).

Literaturhinweise:
B. Ahrenholz/I. Oomen-Welke (Hg.) Deutsch als Zweitsprache. Hohengehren: Schneider
K. Brizić (2007) Das geheime Leben der Sprachen. Münster: Waxmann
J. Bruner (1983/1987dt.) Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber
N. Chomsky (1988/1996) Probleme sprachlichen Wissens. Weinheim: Beltz
W. Grießhaber (2001) Erwerb und Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache. In: "Deutsch in Armenien" Teil 1: 1/2001, 17-24; Teil 2: 2/2001, 5-15. Jerewan: Armenischer Deutschlehrerverband
W. Grießhaber (2010) Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache. Duisburg: UVRR Universitätsverlag
L. Hoffmann/Y. Ekinci/K. Leimbrink/L. Selmani (2013) Migration Mehrsprachigkeit Bildung. Tübingen: Stauffenburg
U. Maas (2008) Sprache und Sprachen in der Migrationsgesellschaft: Die schriftkulturelle Dimension. Göttingen:V&R Unipress
S. Romaine (1995) Bilingualism. Oxford: Blackwell
J. Ronjat (1913) Le developpment du langue observé chez un infant blingue. Paris: Champion
M. Tomasello (2002) Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt: Suhrkamp
M. Tomasello (2003) Constructing a language. Cambridge: Harvard University Press
R. Tracy (2007) Wie Kinder Sprachen lernen. Tübingen: Francke
L.S. Wygotski (= Lev S. Vygotskij) (1969) Denken und Sprechen. Frankfurt: S. Fischer

> Mehrsprachigkeit / Bilingualismus

> Sprachliches Relativitätsprinzip (Zusammenhang von Sprach- und Denkentwicklung)

> Literatur zum Erstspracherwerb

> Literatur zum Zweitspracherwerb

> Sprache und Gehirn