Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

 

Wortschatzerwerb

 

 


 

Words, words, words...


Ohne Wörter keine Sprache, ohne Grammatik keine Sprache. Was ist wichtiger? Merkwürdige Frage. Katze - Wiese - lauf ist weder ein Satz noch eine sinnvolle Äußerung. Malle Schonen lossten inter fein happel sieht aus wie ein Satz des Deutschen, wir wissen aber nicht, was das bedeuten soll.

Pro Minute werden 120 bis 180 Wörter gesprochen. Unser Worterkenner ist stark automatisiert in der Bedeutungszuweisung, die Grammatik sorgt dafür, dass alles sinnvoll verbunden wird.

Zum Wortwissen gehört die Grundbedeutung, dann die einzelnen Wortformen (Haus, Häuser), verwandte und abzugrenzende Wörter und Wortbildungen (Gebäude, Schuppen, Bude, Palast, Hütte; Hochhaus, Einfamilienhaus, Doppelhaus; Kranken+haus, Wohn-haus, Gebet-s-haus; Haus-tür, Haus-verwalter, Haus-meister...), der Gebrauch in Wendungen (Haus Gottes, Haus Europa, Haus und Hof), Gegensätze und die syntaktische Verwendung (nach Hause kommen, ins Haus gehen, zu Hause sein, haushalten). Wissen sollte man auch, wie Wortbildungselemente funktionieren (auf-, be-, ver- etc.), um Reihen bilden  und verstehen zu können.

Symbolische Wörter (Tisch, rot, sing-, gern) sind zentral in der Wissensverarbeitung (Aufnahme von Erfahrungen, Kategorisierung  und Organisation des Wahrgenommenen) Gelerntes bedarf häufigen Gebrauchs. 3% unverstandene Wörter können schon das Textverständnis blockieren. Mit 4 Jahren ist der Wortschatz in der Erstsprache noch stark elternabhängig; im Vorschulbereich sind ca. 3800 -5000, bei Schulanfang 5000-9000 Wörter produktiv verfügbar, während 10000-14000 verstanden werden (Schätzungen nach Tests von Augst u.a.). In einem Schuljahr werden ca. 3000 Wörter neu gelernt. Im Abitur braucht man 5000 engl. Wörter, 500-600 sind p.a. neu). Wenige Wörter werden explizit vermittelt.

Wortlernen ist nicht einfach, eine Lautgestalt mit einer Bedeutung zu verbinden, sei es eine Vorstellung von x, Merkmale von x. Wer ein Wort beherrscht, weiß, wie es in passenden Konstellationen und von wem und wozu es zu gebrauchen ist (vgl. ?Das Gesetz ist voll cool, Frau Kanzlerin). Er weiß auch, auf welchen Zweckzusammenhang das Wort gerichtet ist (z.B. Wissenschaft, Politik, Recht, Technik), welche emotionalen Tönungen es hat (elegante Theorie, schwer in Ordnung), welche sozialen Kontexte/Praktiken sich mit ihm verbinden (fett). Intentionales Lernen ist effektiver, wird aber schneller vergessen als beiläufiges, das mehr Zeit und Wiederholungen in vielen Kontexten braucht.

Gelernt werden Wörter des Symbolfelds immer in Abgrenzung zu anderen Wörtern desselben Wortfelds (Hengst im Gegensatz zu Stute; Bauer in Abgrenzung zu Läufer, Springer, Turm, König, Dame; Nelke in Verbindung mit Tulpe, Rose, Narzisse…; kaufen im Unterschied zu stehlen; stehlen im Unterschied zu klemmen, nehmen/wegnehmen…). Wörter sind im Erwerb und Gebrauch als Teil eines Netzwerks zu sehen.

Zentral sind Wörter, die Basiskonzepte für wahrnehmbare Dinge repräsentieren (Hose, Kleid, Auto, Fahrrad, Stuhl...)

 

Für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache fehlen genauere Untersuchungen; neue dt. Wörter werden oft einfach in die Erstsprache übertragen (Luft, obwohl sie im Türk. hava kennen). Sie brauchen viel mehr Erklärungen, Wissen über Wortbildungsregularitäten, Ratestrategien. Ihr flüssiges Reden (das geht schon mit 1000-2000 Wörtern) verleitet zu Fehlschlüssen über den Wortschatz. Oft ist die Erstsprache nicht so entwickelt, dass der Wortschatz der Zweitsprache anknüpfen könnte.

Mit einem Wortschatzrückstand kann die Bildungsentwicklung und am Ende auch die kognitive Entwicklung erschwert sein. Rückstände sind aber schnell aufzuholen, wenn eine begriffliche Verankerung in beiden Sprachen gelingt. Worterklärungen sind unaufgefordert zu geben, mehrsprachige Kinder fragen selten nach (Gesichtsverlust).

Ein ausgebauter Wortschatz ist auch wichtig für das Schreiben. Nicht sinnvoll ist: Vokabellisten vorab zur Verfügung zu stellen, wie in der Fremdsprachendidaktik öfter üblich. Besser ist es, erst entsprechende Erfahrungen machen, drüber reden, dann verschriften lassen. Und: Unterstützung fortlaufend anbieten (mündlich und schriftlich), Elizitierungstechniken zum Erfragen, Klären, selber Suchen...

Zum Wortschatzprojekt

Literaturhinweis
E. Apeltauer (2008) Wortschatzentwicklung und Wortschatzerwerb. In: B. Ahrenholz/I. Oomen-Welke (Hg.)(2008) Deutsch als Zweitsprache. (DTP 9). Hohengehren: Schneider, 239-251
Wortschatz - erweitern und vertiefen. Der Deutsch-Unterricht Ausgabe April Heft 02/2007

Weitere Literatur