▶ Mehrsprachigkeit und Bilingualismus
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Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit ist weltweit gesehen der Normalfall. Besondere Sprachenvielfalt haben Indien, Afrika, der Kaukasus, Neuguinea zu bieten. Es ist ohne Weiteres möglich, als Kind mehrere Sprachen zu lernen. Das hat, wenn die Sprachen voll entwickelt werden können, keine kognitive Nachteile für ein Kind. Solche Nachteile hat der deutsche Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber zur NS-Zeit und danach immer wieder beschworen und mit der Gefahr kultureller Verluste verbunden: Für ihn ist der Mensch auf Einsprachigkeit hin angelegt, er hat die Chance, sichalle in der Muttersprache präformierten Denk- und Begriffsmuster anzueignen. Man erkennt hier u.a. eine bestimmte Humboldt-Interpretation (Einzelheiten: Grießhaber 2005). Heute gilt diese Position als spekulativ und wissenschaftlich nicht belegbar. Gleichwohl finden sich im Bildungsbereich immer wieder Annahmen, dass mehrsprachige Kinder ein Defizit aufwiesen; in den 70er Jahren hat man das von Kindern der 'Unterschicht' behauptet (Bernstein). Heute ist die wissenschaftliche Perspektive eine differentielle: Wissenschaftler fokussieren Differenzen, erkunden die Wege zu ausgebauter Mehrsprachigkeit und fördern Kinder, für die nur unzureichende Lernangebote bestehen und die durch eine monolingual deutsche Schule überfordert sind. Der Erwerb von
mehr als einer Sprache führt zu einem
bestimmten Typ der Mehrsprachigkeit. Mehrsprachigkeit bezeichnet
den Fall, dass jemand sich in zwei oder mehr Sprachen verständigen
kann. Bilingualismus -
Zweisprachigkeit - ist der häufigste Typus. Die Muttersprache erscheint als Sprache der Mutter, der Eltern. Sprache wird in diesem Konzept biologisch verortet, die Sprachentwicklung im Rahmen des Dialogs und der Gesellschaft ist nicht sichtbar. Vor allem reduziert der Ausdruck die sprachliche Vielfalt – die meisten Menschen sind mehrsprachig – zugunsten einer Homogenitätsannahme. Besser ist es daher von der Erstsprache des Kindes zu reden; Kinder können mehrere Ertsprachen haben. Die Sprache der Eltern wird in der Regel auch die Erstsprache des Kindes. Das ist aber nicht unbedingt so: Es kann sein, dass die Eltern die Umgebungssprache für so wichtig einschätzen oder also so dominant erleben, dass sie sie zur Familiensprache machen. Beispielsweise haben im norddeutschen Raum viele Eltern den niederdeutschen Dialekt aus Angst vor Schulproblemen nicht weitergegeben, die Kinder haben allenfalls eine passive und rudimentär aktive Kompetenz ausgebildet. Die Erstsprache wird oft auch die am besten beherrschte, die "stärkste" Sprache, mit der sich Wissenserwerb und Kategorienbildung verbinden und in der gedacht wird. Dafür muss sie lange genug entwickelt werden. Die erste Generation der Migranten kam mit der Perspektive der Rückkehr, so war es politisch gewollt, so wollten sie selbst es zum Teil. Vielfach gab es kaum Unterrichtsangebote, die Zweitsprache wurde rudimentär am Arbeitsplatz und in der Umgebung erworben. Sie reichte nur für das Nötigste und blieb stark formelhaft. Bei Vielen wurde sie auf einem bestimmten Erwerbsstand eingefroren, entwickelte sich nicht mehr weiter ("Fossilisierung") (Typ 3). Diese Gruppe war - etwa für Behördenkommunikation, Arztbesuch etc. - angewiesen auf professionelle oder private Vermittler. Kinder aus der eigenen Familie haben diese Rolle manchmal übernommen. Einige waren schon in der Erstsprache nicht alphabetisiert und benötigten in der Heimat Unterstützung für Briefe etc. Der Prozess des Erstspracherwerbs kann gestört werden, wenn die Umgebung, besonders die Schule, dem Kind eine Zweitsprache aufzwingt, ohne dass die Erstsprache bis zu einem guten Niveau und auf die Stufe der Schriftlichkeit weitergeführt wird (etwa im Rahmen eines geeigneten muttersprachlichen Unterrichts). Dann kann es passieren, dass die Erstsprache schwach wird und unter ungünstigen Bedingungen auch die Zweitsprache kein hohes Niveau erreicht (Typ 4). Das wird auch als "doppelte Halbsprachigkeit" bezeichnet; man sollte diesen Ausdruck meiden. Es geht schlicht um eine niedrigere Kompetenz in beiden Sprachen, die nahe an der Mündlichkeit bleibt, den grammatischen Kern aber nicht tangiert - es handelt sich nicht um pathologische Fälle -, sondern den Wortschatz und jene expliziten Formen, die für die Schriftlichkeit benötigt werden. Umgekehrt können
sich zwei Sprachen, die in Familie und Institutionen optimal gefördert
würden, gegenseitig stützen, d.h. ein differenziertes Sprachwissen
und Sprachbewusstsein zur Folge haben. Man erwirbt gewissermaßen
noch eine zweite Perspektive auf die Welt. Entwickelter Bilingualismus
ist für das Individuum auch intellektuell von Vorteil. Er verdient
Förderung. Mehrsprachigkeit bringt anderen Mehrsprachigen gegenüber Code-Switching (Sprachenwechsel auch innerhalb von Äußerungen) mit sich – eine ganz normale Erscheinung. Es bilden sich auch neue Varietäten (keine Dialekte), etwa in mulitiethnischen Stadtvierteln (Wiese 2012). Der Slavist Uwe Hinrichs behauptet in seinem Buch "Multikultideutsch" (2013) u.a., dass ein schon länger anhaltender Wandel in den Kasusformen des Deutschen (Genitiv-, Dativschwächung), im Gebrauch der Präpositionen und Artikel, überhaupt die Tendenz zum analytischen (Grammatik auf mehrere eigenständige Ausdrücke verteilenden) Sprachbau auf die Migrationssprachen zurückgehe und auf dem Wege über mündliche Sprachformen ("Kiezdeutsch", Code-Switchung etc.) auf das Deutsche einwirke und einen Wandel auslöse oder verstärke. Kritik dazu hier. Literaturhinweise: Weitere Literatur zum Zweitspracherwerb und Bilingualismus Literatur zum Erstspracherwerb Fragen zur Mehrsprachigkeit (FMKS)
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Sprachenvielfalt in Afrika. Nach dem Greenberg-Index markiert 1 maximale Verschiedenheit (2 Personen haben stets andere Erstsprache), 0 besagt, alle haben dieselbe Erstsprache. Quelle: Atlas der Globalisierung (2009), 142 Amtssprachen in Afrika. Deutlich: der Einfluss der Kolonialisierung.
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