Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

 

▶ Erstsprache / Muttersprache
(türk.: anadili, russ.: родной язык, französ.: langue maternelle
, span./portugies.: lengua materna, poln.: język)

 

1. Die Sprache der Eltern wird in der Regel auch die Erstsprache des Kindes. Sie bleibt das Mittel, mit dem sich Familien verständigen und ihre Erfahrungen ausdrücken können. Der Gebrauch der Erstsprache in der Familie behindert den Zweitspracherwerb nicht. Mangelndes Sprachbewusstsein kann sich störend auswirken.

2. In der Erstsprache gewinnt das Kind Zugang zur Welt. Es lernt das, was ihm begegnet, in Begriffen dieser Sprache zu fassen und baut damit sein Wissen auf.


Die Sprache beeinflusst z.B. die Raumorientierung. Im Deutschen oder Türkischen geht der Sprecher von einer Orientierungsachse aus, die horizontal durch seinen Körper verläuft: rechts (von mir), türk. benim saǧ-ım-da (ben 'Sprecher, -im/-ım 'Possessiv Sprecher, saǧ ‚Rechte’, -da Lokativ); im australischen Guugu Yimidhirr fehlt die vorn/hinten-Oppositioin und der Sprecher nutzt ein unabhängiges, aber auch erfahrungsbezogenes Koordinatensystem (Wo geht die Sonne auf?); auch in der Maya-Sprache Tzeltal ist ein Objekt in konstanter Orientierungsrichtung, analog zu unseren Himmelsrichtungen, auch wenn er seinen Standort verändert.

3. Mit der Erstsprache verbindet sich die Identität des Kindes in seiner kommunikativen Welt.

4. Damit die Erstsprache Trägerin des Wissens und Mittel zur Verarbeitung auch komplexer Erfahrungen bleiben kann, muss sie auch im Schulalter weiter entwickelt und es muss die Schrift erworben werden.

5. Der Erwerb der zugehörigen Schrift und der Fähigkeit, nicht nur einfache Texte in der Erstsprache lesen zu können, macht das Kind zu einem reflektierten Sprachbenutzer, der Distanz zu seinem Sprachgebrauch gewinnen und daher präziser formulieren kann.

6. Zugang zur Schrift beinhaltet auch Zugang zur Herkunftskultur, ihrer Literatur und aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskussion.

7. Es gibt keine „doppelte Halbsprachigkeit“ (Kinder die keiner der beiden Sprachen können). Dazu das Postdamer Manifest.

8. Guter Erstspracherwerb erleichtert den Erwerb weiteren Sprachen. In Deutschland sollten wenigstens drei Sprachen (Erstsprache, Deutsch und eine weitere Sprache) beherrscht werden. Weltweit ist Einsprachigkeit die große Ausnahme, Mehrsprachigkeit normal.

9. Mehrsprachige können jederzeit die Sprachen wechseln und ihre Erfahrungen besser austauschen.

10. Mehrsprachigkeit ist Reichtum und mit jeder Sprache sieht man die Welt anders: Die Perspektiven mehrerer Sprachen lassen uns die Welt differenzierter, genauer erfassen.

Literatur:

J. Cummins (1982) Die Schwellenniveau- und Interdepenz-Hypothese: Erklärungen zum Erfolg zweisprachiger Erziehung. In: Swift, J. (Hg.) Bilinguale und multikulturelle Erziehung. Würzburg: Königshausen + Neumann, 34-43

Die sogenannte „Doppelte Halbsprachigkeit“: eine sprachwissenschaftliche Stellungnahme. [http://www.unipotsdam.de/fileadmin/projects/svm/pdf/DoppelteHalbsprachigkeit_Stellungnahme.pdf]

W. Grießhaber (2010) Spracherwerbsprozesse in Erst- und Zweitsprache. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr

J. Rehbein (1988), Diskurs und Verstehen. Zur Rolle der Muttersprache bei der Textverarbeitung in der Zweitsprache, in: E. Apeltauer (ed.), Gesteuerter Zweitspracherwerb. München: Hueber, 113-171