Worum es geht
Der Slavist Uwe Hinrichs behauptet in seinem Buch "Multikultideutsch" (2013)
u.a., dass Sprachwandel im Bereich der Kasusformen
des Deutschen (Genitiv-, Dativschwächung), im Gebrauch der Präpositionen
und Artikel, überhaupt
die Tendenz zum analytischen (Grammatik
auf mehrere eigenständige Ausdrücke verteilenden) Sprachbau,
auf die Migrationssprachen zurückgehe. Die Phänomene gelangten
auf dem Wege über mündliche Sprachformen ("Kiezdeutsch" bzw.
die Jugendsprache,
Code-Switching etc.) ins Deutsche und so werde ein Wandel ausgelöst oder
verstärkt. Das werde in der Linguistik bisher aus Gründen "politischer
Korrektheit" übersehen.
Argumentation
1. Es gibt in verschiedenen Bereichen des Deutschen seit
gut 40 Jahren Sprachwandel (Kasus, Artikel, Präpositionen, Verberststellung,
keine Kopulaverben).
2. Migrationssprachen zeigen in diesen Bereichen analoge Strukturen, "exotische"
oder "uneuropäische" Lösungen oder Vereinfachungen, mindestens in der
Aussprache (türkische Kasus z.B.).
3. Im Deutsch der Migranten ("Gastarbeiterdeutsch", Übergangsvarietäten,
Code-Switching, Kiezdeutsch Jugendlicher) sind solche Vereinfachungen systematisch
aufzufinden.
4. Diese Vereinfachungen wirken auf die Jugendsprache, allgemein auf die
Sprache von deutsch Erstsprachigen, so dass es zu einem Sprachwandel kommt
und schulgrammatische Regel nicht mehr beachtet werden (Kasus, Kongruenz
etc.).
Methode und Empirie
Der Autor schreibt zu Daten, Belegen und Methoden:
"Was ist zur Zeit noch nicht möglich? Einige Dinge können
jedoch aufgrund des gegenwärtigen Forschungsstandes in diesem Buch nicht
geleistet werden und sie sollten auch nicht erwartet werden:
• Es ist
zur Zeit unmöglich, die Veränderungen im einzelnen und den sich daraus
ergebenden Entwicklungstrend des Deutschen wirklich schlüssig zu beweisen
- jedenfalls nach dem gängigen Muster der europäischen Wissenschaften,
d. h. ü̈ber Hypothesen, Empirie und Experiment, Verifizierung etc.
•
Es können, zweitens, keine hieb- und stichfesten statistischen Daten
zu den sprachlichen Fakten geliefert werden, wie sie sich vielleicht aus
Feldforschungen, Fragebogen-Aktionen oder Sprachtests ergeben würden.
•
Es kann (noch) keine linguistische Feinanalyse erfolgen, die wirklich
erschöpfend wäre und die schon Licht bringen würde in den kommunikativen
und psychischen Hintergrund, der die Phänomene erzeugt. Es kann - um
ein Beispiel zu nehmen - mangels einschlägiger Forschungen nicht endgü̈ltig
ermittelt werden, unter welchen Bedingungen der Kasus Dativ am ehesten
geschwächt und ersetzt wird, wann z.B. am schnellsten zu dem Muster «Er
musste sich eine_ (statt *einer) Behandlung unterziehen»
gegriffen wird." (15f.)
Kasus
Der Abbau von Kasusformen im Deutschen ist ein Phänomen, das schon
länger im Gang ist: Bereits im Mittelhochdeutschen finden wir bei
den Substantiven Veränderungen im Stamm und Flexionsendungen, z.B.
durch den Umlaut. In den Flexionsendungen erscheint als silbischer Vokal
ein Reduktionsvokal, das Schwa (-e, -en, -er, -es); dieses Schwa
kann in der Mündlichkeit ausfallen, der ihm folgende Konsonant (Nasal,
Liquid) kann den Silbenkern bilden und schließlich auch entfallen.
So kann es zu Endungslosigkeit im Kasussystem kommen. Im Laufe des Althochdeutschen
und Mittelhochdeutschen hat sich aus der Objektdeixis ("Demonstrativum")
der (unbetonte) bestimmte Artikel gebildet. Dieser Artikel kann wie das
deiktische Determinativ in der Nominalgruppe den Kasus markieren; man
muss also die ganze Nominalgruppe, in der im Deutschen Kongruenz herrscht,
betrachten: an diesem schönen Tag(e). Wenn in diesem Beispiel
das Dativ-e verschwindet, so bleibt die Dativmarkierung an dies-em.
Wir müssen also immer auch innersystematische, langfristige Entwicklungen
betrachten, wenn wir Sprachwandel erklären wollen. H.U. Schmidt
schreibt in seiner "Einführung in die Sprachgeschichte" (2009): "Die
Phonetik zerrt an der Morphologie"
(181).
Dass der Genitiv nicht verschwindet, sondern langfristig einen Rollenwandel
– hin zu objektartigen Funktionen in der Nominalgruppe – durchläuft,
ist von Linguisten in Reaktion auf Bastian Sick breit erörert worden.
Der possessive Dativ (dem Vater seine Tauben) hat seinen Ursprung
in den deutschen Dialekten, in denen er generell und lange vor den Migrationssprachen
präsent
ist. Das von Hinrichs angeführte türkische Dativ-Modell (243)
hat in Wahrheit den Genitiv: baba-nın
ev-i 'Vater+Genitiv Haus+Possessiv.
Für die Veränderungen bei den Kasusforderungen der Präpositionen,
die zu Schwankungen führen (entsprechend dem – entsprechend des n.
nominalem Muster) kann man Genaueres aus Arbeiten zu den Präpositionen
zur Grammatikalisierung entnehmen, etwa eine Tendenz, neue Präpositionen,
die aus nominalen Ausdrücken hervorgehen, den (nominalen) Kasus
Genitiv fordern zu lassen (Weg, wegen des Kasus), der dann später
durch Dativ oder Akkusativ ersetzt werden kann (wegen dem Kasus).
Die
von Hinrichs öfter beanstandete Konstruktion Vertrauen für findet
man schnell in einer Korpusrecherche (DWDS) auch schon zu Anfang des
20. Jahrhunderts und sehr häufig im ZEIT-Korpus.
Dass niemand
mehr sage "Mit dies-em Problem
muss man immer rechnen, von ein-em solchen Ergebnis
kann man nur träumen" (239), sondern etwa "mit dies-en Problem", also
der Dativ hier durch den Akkusativ ersetzt werde, kann ich – auch im Blick
auf Korpora – überhaupt nicht nachvollziehen.
Artikel
"Kein Migrant sollte ernsthaft darauf hoffen,
den deutschen Artikel wirklich zu beherrschen - das wäre zumindest
nicht sehr realistisch. Es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel,
weil der Artikel meistens zufällig
ist, weil es drei Varianten gibt und weil sich sein Gebrauch auch bei
den Deutschen langsam ändert." (162) Tatsächlich ist für
manche der Artikel ein Lernproblem,
viele Migranten beherrschen den Artikel aber sehr gut. Die
Semantik/Pragmatik des Artikels ist verschiedentlich beschrieben (z.B. "Determinativ" im
Handbuch "Deutsche Wortarten", 2009; Deutsche Grammatik, 2013)
und natürlich
keineswegs regellos; das wäre auch seltsam, denn das Deutsche ist
lernbar. Daran wäre im Grammatikunterricht der Schulen, der ein wirkliches
Probelm darstellt, oder im DaF-Unterricht zu arbeiten. Man muss allerdings
funktional vorgehen und die gesamte Nominalgruppe einbeziehen.
Die Kombination bestimmter Artikel + Personenname ist übrigens nicht
auf Großstadtvarietäten
zurückzuführen, sondern auf süddeutsche Dialekte.
"Gastarbeiterdeutsch (GAD)", Sprachwissen und Energiegewinn
durch Vermeiden korrekter Formen
"• Es gibt im migrantischen Sprachwissen irgendwo
eine dunkle, unbewusste Spur der <richtigen> Formen, die aber nicht an
die Oberfläche
der Äußerung dringt oder dringen soll.
• Eine eventuell mögliche Übereinstimmung grammatischer
Formen (<Kongruenz>) wird unbewusst gemieden, weil sie
im Be wusstsein der Gastarbeiter und für den GAD-Code ein falsches
Signal wäre
(und keine Aussicht auf Stabilität hat).
• Der Energiegewinn
durch die Vermeidung der Übereinstimmung muss erheblich sein und
die Nachteile eines <falschen Deutsch> mehr als wettmachen." (156)
Sequentieller Zweitspracherwerb nicht möglich?
"Und letztlich bleibt die jeweils andere Grammatik als
ganze immer
unerreichbar, weil sie bei einsprachigen Muttersprachlern in den ersten
vier Lebensjahren unangreifbar fest eingespeichert wird. Der Strukturalist
Roman Jakobson hat das schon vor langer Zeit nachgewiesen." (158)
Ein solcher Nachweis von Jakobson ist mir nicht bekannt. In seinem
berühmten Buch "Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze"(1941/1965)
habe ich nichts dazu gefunden. Jedenfalls
sagen die neueren Befunde der Neurolinguistik etwas anderes - eine Grenze
von vier Jahren nimmt niemand an. Früher schloss sich das Fenster für
die nativistische Sicht der Chomskyaner mit der Pubertät, heute ist die
Auffassung, dass die L2-Artikulation
ab 6/7 Jahren schwerer fällt, aber eine feste Grenze kann niemand angeben.
Soll eine skeptische Position gegenüber Zweitspracherwerb und Mehrsprachigkeit
bezogen werden, wie sie in Deutschland nicht neu ist?
„Wenn der Raub der
Muttersprache einen sich immer rächenden Verstoß gegen Natur- und Menschenrecht,
der Zwang zur Zweisprachigkeit aber die Zerstörung geistiger Eigenart
und die Gefährdung kultureller Leistungsfähigkeit auf Generationen hinaus
bedeutet, so folgt notwendig, dass eine zweisprachige Volksgruppe weder
ihre Bestimmung im Rahmen der Sprachgemeinschaft, der sie zugehört,
noch ihre Aufgabe innerhalb des Staates, dem sie zugeteilt ist, füllen
kann ." (Leo
Weisgerber (1964) Zur Grundlegung der ganzheitlichen Sprachauffassung.
Aufsätze 1925-1933. Hrsg. H. Gipper. Düsseldorf: S Schwann, 429)
Türkisch
Türkisch hat nach herrschender Meinung (Hinrichs spricht
von "türkischen
Grammatikern", das trifft aber auch für andere wie z.B. Lewis
oder Ersen-Rasch zu) sechs Kasus, gegenüber
dem Deutschen kommen Lokativ (Ort) und Ablativ (Quelle, Ursprung) hinzu.
Hinrichs versucht die Migrationssprachen einfacher darzustellen; so
behauptet er, es seien 'eigentlich' nur vier Kasus, außerdem gäbe
es kein ausgeprägtes Kasusbewusstsein bei Türken, weil die
Endungen sprachpsychologisch/akustisch ('auditiv' müsste es
heißen) nicht ins Gewicht fielen (73). Das aber müsste belegt
werden, und zwar wissenschaftlich.
Man kann den endungslosen Nominativ als
'Nullkasus' (ohne Suffix) oder "Absolutiv" (Lewis) fassen.
Man kann wie Göksel/Kerslake 2011
("Turkish – An Essential Grammar")
noch einen weiteren Kasus ansetzen: -(y)le als Instrumentalis/Komitativ
(46). Warum man aber Lokativ und Ablativ "ruhig abrechnen" kann,
"sie täuschen Kasus nur vor und verkomplizieren das Problem"
(72), bleibt des Autors Geheimnis. Ohnehin ist Türkisch als Sprache
mit Postpositionen "ganz uneuropäisch" und auch Finnisch
ist "exotisch" (75). Tatsächlich verfügt das Deutsche über
einige reine Postpositionen wie halber, zufolge und Präpositionen,
die auch nachzustellen sind wie wegen, entlang. Türken
werden also im Kontakt auf deutsche Präpositionen nicht achten, "wer
wollte hier widersprechen?" (75). Das muss "starke Verwerfungen
auslösen"
(75). Und Türkisch ist für Hinrichs das "Muster" im
Sprachkontakt, die Interlanguage von Türkisch-L1-Sprechern beeinflusse
das Deutsche. Eine derart verkürzte
Argumentation ist nicht untypisch, wissenschaftlich erscheint sie ohne
einschlägige
Forschung geradezu fahrlässig.
Analytischer Sprachbau als sehr langfristige Tendenz des Deutschen
Grammatik wandelt sich nicht von heute auf morgen,
sondern in langen Zeiträumen, meist über Jahrhunderte. Das
gilt z.B. für
die konstatierte Tendenz zum analytischen Sprachbau (S. 256): Meyers
Buch - das Buch von Meyer. Synthetisch war noch das Urgermanische
mit seinen beiden Tempora Präsens und Präteritum, ebenso das
Lateinische. Seither ist das Deutsche in Entwicklung zum analytischen
Typus: Funktionen werden auf Wortgruppen verlagert, in denen einzelne
Ausdrücke jeweils eine Funktion übernehmen; im Mittelhochdeutschen
z.B. wird haben in Gruppen wie hat gesandt gebraucht,
das als analytisches Perfekt verstanden wird - analog zum lateinischen
synthetischen Perfekt. Der Artikel bildet sich analytisch als unabhängiges
Wort heraus, nicht synthetisch als Suffix wie im Schwedischen (böcker-na 'die
Bücher'). Das ist nicht erst gegenwärtig unter dem Einfluss
der Migrationssprachen passiert. Dass das Lateinische als dominante Sprache
Europas über viele Jahrhunderte Einfluss gehabt hat, auch auf die
Interpretation analytischer Formen als Tempussystem, etwa durch althochdeutsche Übersetzer,
ist natürlich belegbar.
Clash und Kontaktsprachen
Die schnelle, direkte grammatische Übernahme aus einer Kontaktsprache
ist allerdings die allerletzte Annahme, zu der man greifen sollte. Vergleichsweise
schnell kommt es nur zu lexikalische Entlehnungen (historisch: Zucker aus
dem Arabischen, Fenster aus dem Lateinischen; gegenwärtig: Laptop oder chillen aus
dem Englischen). Die grammatischen Fakten (Nominalgruppe/Kongruenz;
lineare Abfolge) sind in den Sprachen nun mal kompliziert, weshalb man
das ganze grammatische System sehen muss.
Mit Verlaub: Einfache Thesen
helfen nicht weiter und das Eindreschen auf die Mündlichkeit, den
Chat, das Code-Switching, die Migrationssprachen etc. ersetzt keine methodisch
sorgfältige
wissenschaftliche Arbeit. Wie sollte beispielsweise das Switchen bei
Erstsprachlern des Türkischen und L2= Deutsch das Deutsche der Umgebung
beeinflussen? Inwiefern "bewirkt es typische Aussetzungen, die das
zweisprachige Gehirn weiter konditionieren für die Einstellung auf
eine <Grammatik
der dritten Art>, die von anderer Art ist als die gängige Schulgrammatik"?
(173) Mir ist das alles rätselhaft. Ich habe auch keinen Zugang zum
zweisprachigen Gehirn, der solche Aussagen erlauben würde. Das nur
zu postulieren (174) reicht nicht.
Schon
gar nicht braucht man in einer Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch
den Hinweis, Fachkollegen wollten nur "politisch
korrekt" sein
und würden solche Dinge daher verschweigen, nicht einmal den "Akzent"
im "Migrantendeutsch" (was immer das in dieser allgemeinen
Fassung ist) untersuchen (149) – tatsächlich
gibt es Studien zu Lernervarietäten in großer Zahl. Inken Keim hat
auch nicht geschrieben, "es gebe kein Migrantendeutsch" (150),
sondern
"das Deutsch der Migranten gibt es nicht. Es gibt keine einheitliche
Sprachform, die alle Migrantinnen und Migranten sprechen würden." Das
portugiesische und italienische "Gastarbeiterdeutsch" ist nicht
unerforscht, wie das Buch behauptet (151), es gab dazu u.a. Projekte
von Jürgen
M. Meisel (in Wuppertal, dann Hamburg), Natascha
Müller, ganz früh das Heidelberger Projekt, das noch von
"Pidgin" spricht (Dittmar, Klein).
Wir kennen
diese rhetorische Figur der "Korrektheit" von anderen, die
sich als 'Tabubrecher' gegen Kritik immun zu machen versucht haben, um
fragwürdige
Behauptungen salonfähig zu machen. Zuletzt hatten wir das 2010 bei
einem Ex-Senator, Bundesbanker und SPD-Mitglied... mit verheerenden
Folgen für
die Integrationspolitik, den Alltagsdiskurs die Sicht auf Migranten.
Und was meint der Autor, wenn er vom "Clash of Languages" (25,
258) spricht und die Analogie zu Huntingtons "The Clash of
Civilizations and the Remaking of World Order"
bemüht? Huntington sah den Westen moralisch, sozial und intelektuell
in einem Verfallsprozess, während weltweit neue Konfliktlinien zwischen
Kulurkreisen entstanden seien.
Kontakt und Sprachwandel
Eine eigene Diskussion ist der Sprachwandel
wert, dazu gibt es eine Unmenge an Studien (Paul, Labov, Hoenigswald,
Lehmann, Traugott, Heine, Keller u.a.); man wird wenigstens zwischen
analoger Bildung (Analogiebildung gemäß äußeren
Mustern),
Grammatikalisierung (systeminterne Entwicklung strukturbezogener, operativer
Sprachmittel) und Reanalyse (Umdeutung von Ausdrucksstrukturen im System)
unterscheiden müssen. Den Wandel in einer Einzelsprache kann man
nur verstehen, wenn man das System als Manifestation der Tätigkeit
der Sprecher und
seine Geschichte betrachtet und dann weitere
Faktoren wie Kontakt, Vorbild, Konflikt etc. heranzieht. Im vorliegenden
Buch steht aber: "Kontakt ist der Motor allen Sprachwandels" (33)
Selbst wo es keine Belege gibt, wird erwartet, dass erstsprachliche Muster
in die Zweitsprache Deutsch übernommen werden (93). Fehler (etwa im
Deutschland-Russischen oder einer anderen Varietät) sollen "sicher"
"in irgendeiner Form wieder auf das Deutsche zurückwirken und
den Abbau der Grammatik stützen."
(195) Da fehlen einige Zwischenschritte, und es ist eine seltsame
Sicht auf den Transfer, die sich in der Erwerbsforschung nicht findet.
So einfach ist das – sicher
nicht. Ein Studium der deutschen Sprachgeschichte hätte
vor vielen Behauptungen bewahrt. Zwei Seiten später
heißt es dann: "Wandel ohne Sprachkontakt mag es auch
geben – er fällt aber kaum ins Gewicht und besitzt für
das Europa des 21. Jahrhunderts kaum noch Bedeutung." (35) Macht sich
hier jemand die Welt zurecht? Frei nach Pippi Langstrumpf?
Migrationspolitik und Sprachwandel
Dann gibt es Aussagen des Linguisten zur Migrationspolitik. "Vierzig
Jahre – bis
2001
– hat es gedauert, bis Migration in Deutschland zum ersten Mal
zaghaft mit ökonomischen Leitliene in Verbindung gebracht wurde." (42)
Es werden maßgebliche 'Wissenschaftler' wie Beckstein, Buschkowsky,
(Redakteure des) Spiegel zitiert, Sarrazin erscheint im Literaturverzeichnis,
um eine misslungene Politik zu konstatieren, die zu allem Überfluss
noch zu Familiennachzug geführt
habe
– nicht der Kernfamilie, nein, der Clans (44f.) Wie hält es
der Autor mit dem Grundgesetz? Soll ein Bedrohungszenario aufgebaut werden,
in das sich der kontaktbedingte Verfall des Deutschen einreiht? Die neuen
Mehrsprachigkeiten einer "multiplen" (59)
Art gehen angeblich "in den Großstädten
in die Hunderte oder Tausende" (55). Da wären doch Belege ganz
schön. Auch wenn sicherheitshalber festgestellt wird: "Natürlich
ist es unmöglich,
hier in linguistische Tiefen hinabzusteigen, die Literatur dazu ist immens
und nahezu unübersehbar" (59f.) Selbst bei Tiefenangst empfehle
ich verständige
Lektüre der wichtigen Texte zu Zweitspracherwerb, Mehrsprachigkeit
und Sprachkontakt. Dann stellt sich ein anderes Bild ein. Zum sog. "Sprachverfall"
mag man u.a. in einen Text von Rudi Keller schauen,
der im Netz ist
und von Hinrichs gelegentlich angefpührt wird, ohne ihn wirklich in die
Argumentation zu integrieren, und ein anderes Bild vom Sprachwandel bietet
(ebenso das 2014 bei de Gruyter erscheinende Jahrbuch der Jahrestagung
2013 des Instituts für
deutsche Sprache).
Keine Buchempfehlung
Das
Buch von Hinrichs schwankt zwischen bloßer Bestandsaufnahme (S.
27), Warnung vor dem Streben nach Sprachherrschaft (S. 26), scheinbarer
methodologischer Bescheidenheit (S. 15ff.) und wissenschaftlicher Seriosität,
Rechtfertigung durch private Migrantenbezüge (S. 11f.) und Abwehr
politischer Korrektheit (z.B. S. 10); die Zahl der Fakten zum Deutschen
ist sehr begrenzt, einige Beispieltypen sind mir jedenfalls unbekannt.
Dass der auch bei Beck erschienenen Studie von Heike Wiese (Kiezdeutsch,
2012) vorgeworfen wird, sich nicht näher mit den Migrationssprachen
zu befassen, kann man nachvollziehen; sie weist aber auf den Enfluss
hin (Wiese 2012: 149). Dass sie den Einfluss aus "Korrektheit" nicht
untersucht (202), erscheint polemisch.
Wenn man Migrationssprachen
heranzieht, dann sollte das vorurteilsfrei und im Blick auf die
einschlägigen Theorien und Daten sowie die besten grammatischen Darstellungen
geschehen. Für
Linguisten ist im vorliegenden Buch vieles fragwürdig:
Die Verbstellung in "Gemacht hab ich eigentlich noch gar nix heut" (92)
würde
ein Germanist nicht für Verberst halten (92, 219). Ein Linguist
würde
den arabischen Nominalsatz nicht für eine Form des "Weglassens"
(93) halten, dem Ausdruck der Haben-Relation nicht "eine eigenwillige
Weise" oder gar "orientalisches Potential" (93) attestieren,
was immer das heißen mag. Jede Sprache, jeder Sprachtyp ist eigensinnig
und den tieferen Sinn von "orientalisches Potential" möchte
ich lieber nicht deuten. Öfter
wird gesagt, dass eine Sprache "uneuropäische Züge"
(96) habe, etwa das Russische. Europäische Sprachen sind für
Linguisten schlicht die in Europa gesprochenen Sprachen, meist vom
Indo-Europäischen Typ (z.B. slavische Sprachen wie Russisch),
aber auch Finno-Ugrische Sprachen, das semitische Maltesisch, die Turksprache
Türkisch
etc.
Vor allem: Warum schreibt man ein populäres
Buch, wenn die eigenen Annahmen wissenschaftlich nicht fundiert sind
und man das auch zugeben muss? Das diskreditiert ernsthafte Linguistik.
Nein, ich
rate zum Germanistik-/Grammatikstudium bzw. zu einer Lektüre, mit
der man sich nicht den Magen verdirbt und kostbare Lebenszeit verliert,
z.B. einer der
Grammatiken des Deutschen (Eisenberg 2021, Zifonun/Hoffmann/Strecker
1997, Hoffmann 2021) oder Türkischen (Göksel/Kerslake 2010 >hier), einer
Sprachgeschichte des Deutschen (Fleischer, Nübling,
H.U. Schmidt, W. Schmidt). Einen ausgezeichneten Einblick in die Erwerbsforschung
gibt Grießhaber (2010),
in die Sprachkontaktforschung
führt Riehl (2009) ei
Rezension der
FAZ
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