Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

  

▶ Integration

Vgl. auch → Inklusion, Assimilation, Transkulturelle Gesellschaft, Multikulturelle Gesellschaft, Kultur und Interkulturelle Kommunikation
               
Integrationsverweigerer


Integration ist ein politisches Zauberwort geworden. Integriert ist, wer an den gesellschaftlichen Prozessen mehr oder minder teilhat und sich eingefügt hat in die soziale Struktur. Man kann sich integrieren - wenn man die Chance erhält - und integriert werden, wenn Andere dies wollen und man mitmacht. Dass sich Menschen nicht aus eigener Kraft, sondern nur kooperativ integrieren können, wird übersehen oder nicht angesprochen. So kann man Einzelne verantwortlich machen für ein Scheitern, ohne dass die Rolle der gesellschaftlichen Umgebung auf den Prüfstand muss.

Integration ist, was offenbar alle wollen oder wollen sollen, dann wird alles gut. Aber ist das ein gutes Wort?
Das latein. integrare bedeutet ‚wiederherstellen, ergänzen‘, latein. integer heißt ‚unberührt, unversehrt, unbefangen‘, integralis (spätlat.) bedeutet ‚unversehrt, nicht geteilt‘ (n. Pfeifer). Integrität ist um 1800 ‚Makellosigkeit‘, Vollständigkeit‘. Eine zerbrochene Vase wird repariert, die Scherben werden geklebt. Aber sie ist nie, wie sie war. Die Spuren des Einfügens bleiben sichtbar. Oder: Vorher getrennte Komponenten (z.B. Schaltkreise) werden zu einer Einheit, Schaltung, zusammengefasst. Der Reiz liegt in der Organismusvorstellung: der Organismus wird verganzheitlicht, die Einzelkomponenten wirken mit und sichern den Bestand des Ganzen.
Im 19. Jahrhundert, in der deutschen Romantik, wurden Gesellschaft wie Sprachen als Organismen gedacht. Organismen leben, sterben, können krank sein - aber auch angegriffen werden (in biologistisch-chemischer Redeweise der Nazis: zersetzt werden). Dabei wird gerade nicht gesehen, dass gesellschaftliche Gefüge sich aus der Differenz, der Unterschiedlichkeit der Herkünfte, Fähigkeiten, Ziele, Interessen konstituieren und daraus auch ihre Dynamik beziehen, die sie sich fortentwickeln lässt. Sprachen leben durch Aufnahmen aus anderen Sprachen, übernehmen fehlende Ausdrücke oder bilden sie nach.
Des-Integration, Verlust der Integration gibt es als pathologische Persönlichkeit, die hysterisch oder schizophren ist.
Aber es existieren auch Vorstellungen, dass der Organismus, die Persönlichkeit Teile enthalten, die fortlaufender Koordination bedürfen, die wechselseitig anhängig sind, so dass 'das Ganze als Integrat' erscheint (in der Psychologie: Philipp Lersch).
Zum mathematischen Konzept sei Bernoulli genannt: ‚Grenzwert einer Summe‘ (Integralrechnung): Das Integral ist eine 'lineare Abbildung, die einer Funktion auf einem gegebenen Integrationsbereich einen Zahlwert zuordnet'.
In der Volkswirtschaft bedeutet Integration den 'wirtschaftlichen Zusammenschluss mehrerer Länder durch Abbau zwischenstaatlicher Beschränkungen im Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr'.
Medizinisch: Das ZNS schafft durch die Integration verschiedene Informationen, die auf unterschiedlichen Nervenbahnen aus der Wahrnehmung eingehen, ein inneres Bild der Welt. Die vorhandenen Bahnen mit den durch Beanspruchung im Lernen neu geschaffenen (Neuro-Plastizität) schaffen Wissen und Gedächtnis. Integration aller sensorischen Wege ist hier die Bedingung für ein inneres Bild, alles wirkt zusammen, sonst entsteht nichts. Hier ist Integration positiv gesehen.

Es bleibt die Frage, in welche wirklich geteilten Werte sich Menschen integrieren sollen? Was denn die sog. "Leitkultur" in Deutschland ausmacht?

Oder ist es die Verfassung, sind es die Grundrechte? Die aber immer wieder attackiert werden, etwa in der Flüchtlimgsdiskussion.

Integration ist im Recht verankert worden durch das Zuwanderungsgesetz. Hier wird erstmals die Integration von Ausländern (§§ 4345 Aufenthaltsgesetz) geregelt. Der Staat verpflichtet sich zur Förderung der Integration, muss also etwa Integrationskurse, Integrationsprogramme (§ 45) anbieten.

Ein alternatives Konzept bietet der Ausdruck Inklusion.

Da Integration als Ausdruck unvermeidbar ist, sollte versucht werden, den Bedeutungsgehalt in Richtung 'Teilhabe', 'Partizipation' zu entwickeln.


Soziale Integration erscheint als ein Prozess, in dem sich etwas in ein übergeordnetes Ganzes einfügt (ganz/ völligintegriert sein), das in seiner Funktion nicht leidet. Dabei bleibt das Andere, Integrierte weiter sichtbar. Grenzen zur Mitwelt können bestehen bleiben. Das mag positiv oder negativ sein, je nach gesellschaftlichem Image, das die Gruppe hat. Der Anteil Anderer daran - ihre Akzeptanz, Toleranz, ihr Unterstützung - wird weniger deutlich. Der Staat als Vertreter aller kann die Integration fördern, aber geleistet werden muss sie von allen Bürgern. Und entscheidend ist, wie die integrierte Gruppe sozial wahrgenommen und praktisch einbezogen wird.

Literatur:

F. Heckmann (2014) Integration von Migranten: Einwanderung und neue Nationenbildung. Heidelberg: Springer VS
H.H. Uslucan (2011) Dabei und doch nicht mittendrin. Die Integration türkischstämmiger Zuwanderer. Berlin: Wagenbach

"Was heißt eigentlich Integration?" von Micha Brumlik in der taz vom 9.11.15.

 


  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerungund Entwicklung 1/2009:"Zugewanderte sind im Durchschnitt schlechter gebildet, häufiger arbeitslos und nehmen weniger am öffentlichen Leben teil als die Einheimischen."
"Am besten integriert sind – kaum verwunderlich – die Personen aus den Weiteren Ländern der EU-25 (ohne Südeuropa). Sie gehören zumeist zu der europaweiten Wanderungselite, die leicht Beschäftigung findet und sehr gut gebildet ist – sogar besser als der Durchschnitt der einheimischen Bevölkerung."Die Gruppe mit südeuropäischem Migrationshintergrund, also häufig ehemalige Gastarbeiter und ihre Nachkommen, weist im Durchschnitt nach wie vor nur eine niedrige Bildungsqualifikation vor. Einzig die – relativ wenigen – Spanischstämmigen fallen in dieser Gruppe durch bessere Bildungswerte auf. "Große bis sehr große Integrationsmängel bestehen bei den Gruppen mit Migrationshintergrund aus dem ehemaligen Jugoslawien, Afrika und der Türkei. Sie sind nach fast allen Kriterien weit entfernt von einer gleichberichtigten Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben." (Kurzfassung der Ergebnisse (pdf))

 

Besser integriert- mehr Vertrauen? Studie zur Integration (Mai 2010)
Das besagt das neue Gutachten des unabhängigen Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR), das am 19.5.10 vorgestellt wurde.  Die Integration sei nicht gescheitert, das Vertrauen zu den Deutsch vergleichsweise hoch. Befragt wurden 5600 Bürger. Die Interviewer sprachen Russisch und Türkisch. Mehr und Statistik...

Quelle: Süddeutsche Zeitung Online