Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

 

Kultur (und interkulturelle Kommunikation)

"Wir müssen uns selbst emancipieren,
ehe wir andere emancipieren können."
(Karl Marx)

Kultur ist ein schweres Wort, geschichtlich und philosophisch belastet und in verschiedenen Theorien begrifflich unterschiedlich gefüllt. Es kann hier keinesfalls erschöpfend behandelt werden. Kultur - als geteilte Lebens-, Handlungs- und Wissensform, die überliefert wird und sich in den Sprachen niederschlägt - auszubilden, gehört zur Natur des Menschen. Sie bildet den stets gegenwärtigen Hintergrund gesellschaftlicher Praxis und sprachlicher Kommunikation. Menschliche Gesellschaften sind durch recht unterschiedliche Kulturen bestimmt. Ihre Voraussetzungen liegen in der Gesellschaftsgeschichte und werden selten - insbesondere an Konfliktpunkten - hinterfragt. Verstehen setzt voraus, dass die je spezifischen kulturellen Hintergründe mitverstanden werden. Interkulturelle Kommunikation ist insofern riskant und bedarf einer Toleranzmaxime und zusätzlicher Interpretationsleistungen, die in besonderer Weise Inferenzfähigkeit, Wahrnehmung und Vorstellung heranziehen. Kulturelle Manifestationen im Sprachsystem - zumal im eigenen - sind nicht leicht zugänglich. Reflexion und Kritik sind für interkulturelle Kommunikation unabdingbar.

  Ziel der Empathie ist es nicht den Anderen auf Teufel komm raus verstehen zu müssen, denn dies bedeutete, ihm durch das Prisma der eigenen Wahrnehmung eine falsche Transparenz aufzudrücken, ihn zu reduzieren und somit zu erniedrigen. Es beinhaltet aber sehr wohl, kulturelle Differenzen nicht zu verabsolutieren, sondern in ihnen ein wandelbares Potential zu erkennen. es grenzt an Wahnsinn, in der heutigen Welt die Ressource Vielfalt nicht kreativ zu nutzen.
(Ilija Trojanow, Rede zu einer kosmopolitischen Kultur)
 
Istanbul
 

 

Das Wort stammt aus dem Lateinischen cultura ‘Ackerbau’. Cicero allerdings sprach bereits von der "cultura animi", einer 'geistigen Kultur', also einem Wissen. Ausgangsbedeutung ist also: 'Was der Mensch selbst hervorbringt, gestaltet' im Gegensatz zur Natur.

Herder bezeichnet als Kultur die den Menschen bestimmende Lebensform eines Volkes. Für Cassirer ist sie ein “symbolisches Universum”, zu dem mythische Formen, Kunstwerke, religiöse Rituale, aber auch Techniken gehören, die den Menschen, der sich ihrer bedient, prägen.

Für Goodenough ist Kultur “was man wissen oder glauben muss, um so handeln zu können, dass es für die Mitglieder dieser Gesellschaft akzeptabel ist... Kultur ist nichts Materielles. Sie besteht auch nicht aus Gegenständen, Menschen, Verhaltensweisen oder Gefühlen. Kultur bedeutet vielmehr das Zusammenspiel all dieser Dinge; Kultur sind die Formen, die diese Dinge in den Köpfen der Menschen einnehmen; Kultur sind die Modelle, wie die Menschen die Dinge wahrnehmen, wie sie diese Dinge zueinander in Beziehung setzen und wie sie diese Dinge interpretieren. Deshalb ist alles, was die Menschen sagen oder tun, was sie untereinander als sozial vereinbaren, ein Produkt oder Nebenprodukt ihrer Kultur.”
Ausgehend von solche Konzepten wurde versucht, in den unterschiedlichen Kulturen die übergeschichtlichen Grundstrukturen, die aus den Gemeinsamkeiten menschlicher Verstandestätigkeit resultieren, aufzufinden, ihre Strukturmerkmale anzugeben (Levi-Strauss).

In Bourdieus “Habitus” verbinden sich gesellschaftliche Strukturen und individuelle Praxis. Kultur ist Ausdruck wie Medium klassenspezifischer Lebensstile, symbolische Produktions- und Aneignungsweise von Gesellschaft. In den Lebensstilen zeigt sich die Transformation von Haben in Sein, Vermögen und Besitz in Status, wobei es um die spezifisch abhebenden Distinktionen geht: Manieren, Sprache, Kleidung, Bildung etc.
Gramsci sieht Kultur als kritisches gesellschaftliches Bewusstsein und dem gemäße Praxis, Kritik als kritisches Bewusstwerden der Wirklichkeit und ihrer geselllschaftlich-historischen Determination. Kultur ist bezogen auf gesellschaftliche Gruppen, Gattungen (Literatur, Musik, Theater), Handlungsformen (Folklore, Rhetorik vor Gericht etc.). Sie alle werden bestimmt und reproduziert durch Institutionen wie Familie, Schule, Medien, Kirche, Gericht.
Searle (1997:69ff.) hat darauf aufmerksam gemacht, dass viele Erscheinungsformen menschlicher Praxis - „soziale Tatsachen“ - sprachgebunden sind. Ohne sie repräsentierende Sprache, die mit ihr gegebene Mitteilbarkeit und die Individuen, die von der Geltung überzeugt sind, gäbe es keine politische Institution, keine Aktie, kein Geld, kein Eigentum, keine Norm oder Spielregel (Wer die meisten Tore erzielt, gewinnt das Spiel), keine komplexe rechtliche Transaktion. Solche sozialen Tatsachen beruhen Searle zufolge auf sprachabhängiger Intentionalität.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wirkt Sprache strukturierend auf Kultur, sie vermittelt Kultur und zwischen den Kulturen (Interkulturelle Kommunikation). Kultur ist verankert im handlungsleitenden Wissen der Mitglieder. Die Frage, ob wir andere Lebensformen überhaupt verstehen und (z.B. als Aberglaube) beurteilen können, behandelt der Philosoph Peter Winch, an Wittgenstein anschließend. Zur Frage der Sprachabhängigkeit des Denkens vgl. > Relativitätsprinzip. Dan L. Everett (2005, 2010) vertritt die Position, dass Sprache von Kultur als Rahmen abhängig sei, also die Kultur der Pirahã, in der das Hier und Jetzt im Zentrum stehe, die Sprachstruktur bestimme und gewisse Abstraktionen gar nicht zulasse. Mehr dazu...

In interkultureller Kommunikation bleibt es selten bei Einsprachigkeit: Es kommt zu Code-Switching, Mischungen, rezeptiver Mehrsprachigkeit, Formen, in denen aus mehrern Sprachen und kulturellen Bausteinen Neues 'gebastelt' wird.

Jochen Rehbein: "Kultureller Apparat"
Rehbein ordnet im Rahmen der Funktionalen Pragmatik den “kulturellen Apparat” dem Wissen zu. In menschlichen Gesellschaften bilden sich Systeme aus, in denen unter spezifischen Zwecken Handlungsformen, Wissensstrukturen und kommunikative Formen ein festes Repertoire bilden: für gesellschaftliche Zwecke bilden Institutionen wie Schule oder Gericht Apparate mit bestimmten Handlungs- und Wissensformen, die Diskurse weisen kommunikative Apparate auf (z.B. das Sprecherwechselsystem), schließlich existieren mentale Apparate wie Theorien des Alltags oder eben übergreifende kulturelle Apparate. In kulturellen Apparaten sind gesellschaftliche Erfahrungen, Bewertungen, Denkstrukturen, Vorstellungsformen und Wissen über Praktiken des Handelns aufbewahrt, werden überliefert und werden kommunikativ-praktisch angewandt, z.B. der Apparat der Höflichkeit. Ein solcher Apparat ist historisch ausgebildet, einzelsprachlich gebunden und beeinflusst den symbolischen Wortschatz der Sprache. In interkultureller Kommunikation kann er sich stabilisieren, verfestigen (etwa durch Wiederholung und Routinebildung), aber auch kritische Bewusstwerdung auslösen und so Wandel auslösen.
Die interkulturelle Kommunikation kann durch unterschiedliche  kulturelle Apparate und Handlungssysteme bestimmt sein, die zu überbrücken oder in neue Formen zu überführen sind. Es können aber auch Elemente des mitgebrachten Repertoires fraglos fortgeführt oder resistent sein und kommunikative Prozesse behindern.

Theorie der "Kontextualisierungshinweise"
Dieser soziolinguistisch-konversationsanalytische Ansatz von John J. Gumperz folgt wie der pragmatische einer qualitativen Methodologie. Er setzt bei Missverständnissen an. Jede Äußerung erlaubt vielfaches Verstehen. Das Verstehen ist geleitet durch die ‘konventionelle Bedeutung’ der Äußerung in Verbindung mit Implikaturen (Nahelegungen/Schlussfolgerungen). Die Äußerungen enthalten Hinweise („cues“), die signalisieren, wie das Gesagte zu verstehen ist: z.B. prosodische Merkmale (Pausen, Tonhöhe, Stimmnuancierung). Diese Kontextualisierungshinweise schränken die Wahl der Interpretation für den Hörer ein, kanalisieren die Willkürlichkeit der Entscheidung. Die Hinweise basieren u.a. auf vorgängiger kultureller, sozialer, ethnischer Erfahrung; das Wissen über sie ist vorausgesetzt und unterschiedlich auf gesellschaftliche Gruppen verteilt. Damit kommt es oft zu Missverständnissen, da Kenntnis und Gebrauch derselben Sprache nicht unbedingt Gleichklang bei den Kontextualisierungshinweisen beinhaltet. Gumperz hat dies u.a. an Unterschieden zwischen britischem und pakistanischem Englisch gezeigt, die zu Störungen führen können. So kann ein Sprecher des pakistanischen Englisch vor britischem Hintergrund als „aggressiv“ erscheinen, wiewohl er nur Intonationsgewohnheiten des pakistanischen Englisch folgt.

Transkulturelle Gesellschaft

Literaturhinweise:
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Ch. Taylor (2009) Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt: Suhrkamp
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> Bibliographie Interkulturelle Kommunikation

> Leitkultur

> Audioarchiv Erzählte Migrationsgeschichte

> Sibel Kekilli: Gegen Gewalt im Namen der Ehre 10.03.2015