Kultur ist
ein schweres Wort, geschichtlich und philosophisch belastet und in verschiedenen
Theorien begrifflich unterschiedlich gefüllt. Es kann hier keinesfalls
erschöpfend behandelt werden. Kultur - als geteilte Lebens-, Handlungs-
und Wissensform, die überliefert wird und sich in den Sprachen niederschlägt
- auszubilden, gehört zur Natur des Menschen. Sie bildet den stets
gegenwärtigen Hintergrund gesellschaftlicher Praxis und sprachlicher
Kommunikation. Menschliche Gesellschaften sind durch recht unterschiedliche
Kulturen bestimmt. Ihre Voraussetzungen liegen in der Gesellschaftsgeschichte
und werden selten - insbesondere an Konfliktpunkten - hinterfragt. Verstehen
setzt voraus, dass die je spezifischen kulturellen Hintergründe
mitverstanden werden. Interkulturelle Kommunikation ist insofern riskant
und bedarf einer Toleranzmaxime und zusätzlicher Interpretationsleistungen,
die in besonderer Weise Inferenzfähigkeit, Wahrnehmung und Vorstellung
heranziehen. Kulturelle Manifestationen im Sprachsystem - zumal im eigenen
- sind nicht leicht zugänglich. Reflexion und Kritik sind für
interkulturelle Kommunikation unabdingbar.
|
|
Ziel der Empathie ist es nicht
den Anderen auf Teufel komm raus verstehen zu müssen, denn
dies bedeutete, ihm durch das Prisma der eigenen Wahrnehmung eine
falsche Transparenz aufzudrücken,
ihn zu reduzieren und somit zu erniedrigen. Es beinhaltet aber sehr
wohl, kulturelle Differenzen nicht zu verabsolutieren, sondern in
ihnen ein wandelbares Potential zu erkennen. es grenzt an Wahnsinn,
in der heutigen Welt die Ressource Vielfalt nicht kreativ zu nutzen.
(Ilija Trojanow, Rede zu einer kosmopolitischen Kultur) |
|
Istanbul |
|
Das Wort stammt aus dem Lateinischen cultura ‘Ackerbau’.
Cicero allerdings sprach bereits von der "cultura animi",
einer 'geistigen Kultur', also einem Wissen. Ausgangsbedeutung ist also:
'Was der Mensch selbst hervorbringt, gestaltet' im Gegensatz zur Natur.
Herder bezeichnet als Kultur die den Menschen bestimmende
Lebensform eines Volkes. Für Cassirer ist sie ein “symbolisches
Universum”, zu dem mythische Formen, Kunstwerke, religiöse
Rituale, aber auch Techniken gehören, die den Menschen, der sich
ihrer bedient, prägen.
Für Goodenough ist Kultur “was man wissen
oder glauben muss, um so handeln zu können, dass es für die
Mitglieder dieser Gesellschaft akzeptabel ist... Kultur ist nichts Materielles.
Sie besteht auch nicht aus Gegenständen, Menschen, Verhaltensweisen
oder Gefühlen. Kultur bedeutet vielmehr das Zusammenspiel all dieser
Dinge; Kultur sind die Formen, die diese Dinge in den Köpfen der
Menschen einnehmen; Kultur sind die Modelle, wie die Menschen die Dinge
wahrnehmen, wie sie diese Dinge zueinander in Beziehung setzen und wie
sie diese Dinge interpretieren. Deshalb ist alles, was die Menschen sagen
oder tun, was sie untereinander als sozial vereinbaren, ein Produkt oder
Nebenprodukt ihrer Kultur.”
Ausgehend von solche Konzepten wurde versucht, in den unterschiedlichen Kulturen
die übergeschichtlichen Grundstrukturen, die aus den Gemeinsamkeiten menschlicher
Verstandestätigkeit resultieren, aufzufinden, ihre Strukturmerkmale anzugeben
(Levi-Strauss).
In Bourdieus “Habitus” verbinden sich gesellschaftliche
Strukturen und individuelle Praxis. Kultur ist Ausdruck wie Medium klassenspezifischer
Lebensstile, symbolische Produktions- und Aneignungsweise von Gesellschaft.
In den Lebensstilen zeigt sich die Transformation von Haben in Sein,
Vermögen und Besitz in Status, wobei es um die spezifisch abhebenden
Distinktionen geht: Manieren, Sprache, Kleidung, Bildung etc.
Gramsci sieht Kultur als kritisches gesellschaftliches Bewusstsein und dem
gemäße Praxis, Kritik als kritisches Bewusstwerden der Wirklichkeit
und ihrer geselllschaftlich-historischen Determination. Kultur ist bezogen
auf gesellschaftliche Gruppen, Gattungen (Literatur, Musik, Theater), Handlungsformen
(Folklore, Rhetorik vor Gericht etc.). Sie alle werden bestimmt und reproduziert
durch Institutionen wie Familie, Schule, Medien, Kirche, Gericht.
Searle (1997:69ff.)
hat darauf aufmerksam gemacht, dass viele Erscheinungsformen menschlicher Praxis
- „soziale Tatsachen“ - sprachgebunden
sind. Ohne sie repräsentierende Sprache, die mit ihr gegebene Mitteilbarkeit
und die Individuen, die von der Geltung überzeugt sind, gäbe
es keine politische Institution, keine Aktie, kein Geld, kein Eigentum,
keine Norm oder Spielregel (Wer die meisten Tore erzielt, gewinnt
das Spiel), keine komplexe rechtliche Transaktion. Solche sozialen
Tatsachen beruhen Searle zufolge auf sprachabhängiger Intentionalität.
Aus sprachwissenschaftlicher
Sicht wirkt Sprache strukturierend auf Kultur, sie vermittelt Kultur
und zwischen den Kulturen (Interkulturelle Kommunikation). Kultur ist
verankert im handlungsleitenden Wissen der Mitglieder. Die Frage, ob
wir andere Lebensformen überhaupt verstehen und (z.B. als Aberglaube)
beurteilen können, behandelt der Philosoph Peter Winch, an Wittgenstein
anschließend.
Zur Frage der Sprachabhängigkeit des Denkens vgl. > Relativitätsprinzip.
Dan L. Everett (2005, 2010) vertritt die Position, dass Sprache von Kultur
als Rahmen abhängig
sei, also die Kultur der Pirahã,
in der das Hier und Jetzt im Zentrum stehe, die Sprachstruktur bestimme
und gewisse Abstraktionen gar nicht zulasse. Mehr
dazu...
In interkultureller Kommunikation bleibt es selten bei Einsprachigkeit:
Es kommt zu Code-Switching, Mischungen, rezeptiver
Mehrsprachigkeit, Formen, in denen aus mehrern Sprachen und kulturellen Bausteinen Neues
'gebastelt' wird.
Jochen Rehbein: "Kultureller Apparat"
Rehbein ordnet im Rahmen der Funktionalen Pragmatik den “kulturellen
Apparat” dem Wissen zu. In menschlichen Gesellschaften bilden sich Systeme
aus, in denen unter spezifischen Zwecken Handlungsformen, Wissensstrukturen
und kommunikative Formen ein festes Repertoire bilden: für gesellschaftliche
Zwecke bilden Institutionen wie Schule oder Gericht Apparate mit bestimmten
Handlungs- und Wissensformen, die Diskurse weisen kommunikative Apparate auf
(z.B. das Sprecherwechselsystem), schließlich existieren mentale Apparate
wie Theorien des Alltags oder eben übergreifende kulturelle Apparate.
In kulturellen Apparaten sind gesellschaftliche Erfahrungen, Bewertungen, Denkstrukturen,
Vorstellungsformen und Wissen über Praktiken des Handelns aufbewahrt,
werden überliefert und werden kommunikativ-praktisch angewandt, z.B. der
Apparat der Höflichkeit. Ein solcher Apparat ist historisch ausgebildet,
einzelsprachlich gebunden und beeinflusst den symbolischen Wortschatz der Sprache.
In interkultureller Kommunikation kann er sich stabilisieren, verfestigen (etwa
durch Wiederholung und Routinebildung), aber auch kritische Bewusstwerdung
auslösen
und so Wandel auslösen.
Die interkulturelle Kommunikation kann durch unterschiedliche kulturelle
Apparate und Handlungssysteme bestimmt sein, die zu überbrücken oder
in neue Formen zu überführen sind. Es können aber auch Elemente
des mitgebrachten Repertoires fraglos fortgeführt oder resistent sein
und kommunikative Prozesse behindern.
Theorie der "Kontextualisierungshinweise"
Dieser soziolinguistisch-konversationsanalytische Ansatz von John J. Gumperz
folgt wie der pragmatische einer qualitativen Methodologie. Er setzt bei
Missverständnissen an. Jede Äußerung erlaubt vielfaches Verstehen.
Das Verstehen ist geleitet durch die ‘konventionelle Bedeutung’ der Äußerung
in Verbindung mit Implikaturen (Nahelegungen/Schlussfolgerungen). Die Äußerungen
enthalten Hinweise („cues“), die signalisieren, wie das Gesagte
zu verstehen ist: z.B. prosodische Merkmale (Pausen, Tonhöhe, Stimmnuancierung).
Diese Kontextualisierungshinweise schränken die Wahl der Interpretation
für den Hörer ein, kanalisieren die Willkürlichkeit der Entscheidung.
Die Hinweise basieren u.a. auf vorgängiger kultureller, sozialer, ethnischer
Erfahrung; das Wissen über sie ist vorausgesetzt und unterschiedlich
auf gesellschaftliche Gruppen verteilt. Damit kommt es oft zu Missverständnissen,
da Kenntnis und Gebrauch derselben Sprache nicht unbedingt Gleichklang bei
den Kontextualisierungshinweisen beinhaltet. Gumperz hat dies u.a. an Unterschieden
zwischen britischem und pakistanischem Englisch gezeigt, die zu Störungen
führen können. So kann ein Sprecher des pakistanischen Englisch
vor britischem Hintergrund als „aggressiv“ erscheinen, wiewohl
er nur Intonationsgewohnheiten des pakistanischen Englisch folgt.
→ Transkulturelle
Gesellschaft
Literaturhinweise:
P. Bordieu (1976) Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen
Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp
P. Bordieu (1982)
Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen
Urteilskraft. Frankfurt: Suhrkamp (bes. 171–210)
P. Bordieu (1993) Sozialer Sinn. Frankfurt: Suhrkamp
C. Geertz (1987) Dichte Beschreibung.
Frankfurt: Suhrkamp
N. Barley (1991 ) Traumatische Tropen. Stuttgart: Klett-Cotta
K. Ehlich (2007) Interkulturelle Kommunikation.
In: ders. (Hg.) Transnationale Germanistik. München:
Iudicium, 131-150
Y. Ekinci/L. Hoffmann
(2022) Mehrsprachigkeit
und Mehrkulturalität im Konflikt. München: Iudicium
D.L. Everett (2005) Cultural
Constraints on Grammar and Cognition in Piraha. In: Current Anthropology
Volume 46, Number 4, August–October 2005
D.L. Everett (2010) Das glücklichste Volk. München: DVA
C. Everett (2017) Numbers and the Making of Us: Counting and the Course
of Human Cultures. Harvard: University Press
W.H. Goodenough (1956/1964) Cultural Anthropology and Linguistics. In:
Hymes, D.H. (Hg.) Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics
and Anthropology. New York: Harper & Row, 36-39
A. Gramsci (1980) Zu Politik, Geschichte und Kultur. Hrg. von Guido Zamins.
Leipzig: Philipp Reclam jun.
A. Gramsci (2012) Gefängnishefte. Hg. von Klaus Bochmann
und Wolfgang Fritz Haug, 10 Bände. Hamburg: Argument-Verlag
A. Gramsci (2012) Literatur und Kultur. Hg. von Ingo Lauggas.
Hamburg: Argument-Verlag
J.J. Gumperz (Hg.) (1982) Language and Social Identity. Cambridge: Cambridge
Univ. Press
J.J. Gumperz (1992) Contextualization and understanding. In: A. Duranti/Ch.
Goodwin (Hg.)(1992) Rethinking context. New York: Cambridge University
Press, 229-252
J.J. Gumperz (2001): Contextualization and Ideology in Intercultural
Communication. In: A. Di Luzio/S. Günthner/ F. Orletti (eds.): Culture
in Communication: Analyses of Intercultural Situations. Amsterdam/Philadelphia,
John Benjamins. S. 35-54
H.J. Heringer (2012) Interkulturelle Kompetenz. Tübingen: Francke
(UTB)
L. Hoffmann/Y. Ekinci/K. Leimbrink/L.
Selmani (2013) Migration Mehrsprachigkeit Bildung. Tübingen: Stauffenburg
B. Malinowski (1975) Eine wiss. Theorie der Kultur. Frankfurt: Suhrkamp
A. Reckwitz (2003) Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken.
In: Zeitschrift für Soziologie 32/4, 282-301
A. Redder/J. Rehbein (Hrsg.) (1987) Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation.
Osnabrücker Beiräge zur Sprachtheorie (OBST) 38.
J. Rehbein (Hg.)(1985) Interkulturelle Kommunikation, Tübingen:
Narr
J. Rehbein (2001) Konzepte der Diskursanalyse. In: K. Brinker, G. Antos,
W. Heinemann & S. F. Sager. (Hg.) Text- und Gesprächslinguistik.
2. Halbband. HSK. Berlin/de Gruyter: de Gruyter, 927-945
H.-J. Rüsebrink (2005) Interkulturelle Kommunikation. Stuttgart:
Metzler [kulturwissenschaftlich orientiert]
W. Schiffauer (1997) Fremde in der Stadt. Frankfurt: Suhrkamp
J.R. Searle (1997) Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Reinbek: Rowohlt
Ch. Taylor (2009) Multikulturalismus und die Politik der
Anerkennung. Frankfurt: Suhrkamp
T. Todorov (2010) Die Angst vor den Barbaren. Kulturlle Vielfalt
versus Kampf der Kulturen. Hamburg: Hamburger Edition
P. Winch (1975) Was heißt "eine primitive Gesellschaft verstehen?" In:
R. Wiggershaus (Hg.) Sprachanalyse und Soziologie. Frankfurt: Suhrkamp,
295-326.
> Bibliographie
Interkulturelle Kommunikation
> Leitkultur
> Audioarchiv Erzählte Migrationsgeschichte
> Sibel
Kekilli: Gegen Gewalt im Namen der Ehre 10.03.2015
|