Das Wort Leitkultur wurde offenbar 1998
von dem in Göttingen lehrenden Politologen Bassam Tibi in die Debatte
gebracht, er fordert:
„Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen
Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung,
Menschenrechte und Zivilgesellschaft.” (Tibi 1998: 154)
Dass auf deutschem Boden Grundrechte, Menschenrechte, Verfassung, also alle
Charakteristika der deutschen Demokratie gelten, bedarf eigentlich nicht der
Diskussion. Wenn das Bekannte hervorgehoben wird, ist das nur im Kontrast sinnvoll,
also falls jemand es bestreitet. Tibi strebt einen europäischen, aufgeklärten
Islam an, sein Euroislam harmoniert mit den europäischen Werten.
Der Begriff wurde parteipolitisch aufgegriffen und programmatisch in die öffentliche
Diskussion eingeführt, um dem Multikulturalismus und den Parallelgesellschaften
etwas entgegenzusetzen.
Leitkultur wurde verwendet im Sinne von Mehrheitskultur: Ihre Normen, Werte,
Standards, Praktiken sollen auch für Andere maßgeblich sein, die
Anderen sollen sich assimilieren.
Was aber alles zur deutschen Leitkultur gehören
könnte,
wurde nicht geklärt... Heißt Leitkultur: Leben wie alle, tun,
was alle tun? Die Menschen zeigen aber nun einmal sprachliche und kulturelle
Vielfalt. Homogen sind nur kleine Nahgruppen.
Leitkultur war ein Kampfbegriff gegen alles, was anders war.
Nebenwirkungen sind in der politischen Diskussion nicht selten erwünscht.
In einem Interview mit BILD-Online formuliert der frühere bayerische Mininsterpräsident
Stoiber am 26.11. 2007:
„Die
CDU ist in der Tat gut beraten, sich auch auf ihre konservativen Wurzeln zu besinnen.
Das heißt zum Beispiel: Es gibt eine in Jahrhunderten gewachsene
Leitkultur in Deutschland! Also: Bei aller Toleranz: Kathedralen müssen
größer sein als Moscheen! Bei einer Wahl kann es ja egal sein, wer
die eigene Partei wählt - und sei es die Rechten.“
Eine andere Richtung markiert der NRW--Integrationsminister
Armin Laschet: "Wir
müssen endlich anerkennen, dass wir eine Gesellschaft mit vielen
Kulturen sind", sagte er der Financial Times Deutschland vom 11.04.06. "Das
heißt nicht, dass jeder machen kann, was
er will. Es geht darum, mit den Zuwanderern eine gemeinsame Leitkultur
zu erarbeiten."
Geht es also um eine Hierarchisierung der Kulturen? Davor hatte 2000
schon Paul Spiegel vom Zentralrat der deutschen Juden gewarnt. Insofern
liegt das Problem genau in der Kombination mit deutsch. Im Zentrum
stehen nicht mehr Merkmale der Verfassung, auf die man stolz sein kann,
der Weg führt zum Zusammenprall (Samuel Huntingtons „clash“)
der Kulturen.
Sprachlich impliziert Leitkultur die Dominanz einer
Sprache, etwa des Deutschen im Schulunterricht, gar auf dem Schulhof,
der ja Ort entlasteter Kommunikation sein sollte.
Literaturhinweise:
W. Benz (2012)
Die Feinde aus dem Morgenland. Müchen: Beck
G. Çağla (2002) Der Mythos
vom Krieg der Zivilisationen: der Westen gegen den Rest der Welt. Eine
Replik auf Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Münster:
Unrast
L. Hoffmann (2006) Auf dem Schulhof nur Deutsch? In: UNIZET 3/4 06, 4
S. P. Huntington (1998) The Clash of Civilizations and the Remaking
of World Order. New York: Simon & Schuster
S. P. Huntington (2006) Kampf
der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Hamburg:
Spiegel
D. Saunders (2012) Mythos Überfremdung. München: Blessing
A. Sen (2006) Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
München: C.H. Beck
B. Tibi (1995) Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft
und Fundamentalismus. Hamburg: Hoffmann und Campe
B. Tibi (1998) Europa ohne Identität. Berlin: Siedler
|
|