Einige gesellschaftliche
Gruppen haben die Perspektive einer multikulturellen Gesellschaft propagiert,
eines Miteinanders unterschiedlicher Kulturen, die sich in ihren Wertsystemen
tolerieren und voneinander lernen, Verständnis, Respekt, Toleranz üben.
Immerhin ist ja auch die deutsche Ausgangsgesellschaft kulturell heterogen
(städtische - ländliche Kultur, pfälzische, Berlinische,
schwäbische Kultur...).
"Multikulti" ist nicht wohldefiniert und insofern auch geeignet,
es auf eigene Weise zu verstehen und dann damit den politischen Gegner
- meist die Grünen
- zu bekämpfen.
Es gibt kulturelle, Organisationen, Radiosender,
Altenheime u.a., die sich "Multikulti" auf die Fahnen geschrieben haben,
manche verbinden damit den Zugang zu exotischen Speisen oder internationaler
Musik wie türkischem
Hiphop. Oder man meint die Entwicklung einer türkischen, italienischen
etc. Wirtschaft.
Die Angst vor einer "Überfremdung" scheint bei manchen
Deutschen zu herrschen und politisch immer wieder gut nutzbar zu sein.
So wurde Multikulturalismus als wirklichkeitsfern angegriffen, deutsche
Leitkultur gegenübergestellt.
Andere haben
den Wertrelativismus kritisiert, der beispielsweise der Gleichstellung
der Frau in islamischen Kontexten entgegenstehe - so Seyran Ateş.
Die konservative Kritik an „Multikulti“ -
wie die Gegner sagen - beanstandet die scheinbare Gleichheit der Wertesysteme.
Das herrschende, deutsche oder westliche, müsse Vorrang haben, sonst
entständen soziale Konflikte. Dabei beruft man sich gern auf den
amerikanischen Politologen Samuel Huntington, der die Unversöhnlichkeit
aufeinander prallender Wertsysteme - den „clash“ der Kulturen
- behauptet, da bestimmte kulturelle Praxen wie die muslimische mit westlichen
grundsätzlich nicht vereinbar seien. Denkbar sei dergleichen nur
als Modell für globale Eliten, für Intellektuelle. Friedliche
Koexistenz sei auf Dauer nicht möglich.
Der Philosoph Charles Taylor hat die Fragen des Multikulturalismus ernsthaft bearbeitet. Er macht
geltend:
- Neben Universalien wie Menschenwürde gebe es eine universelles
Bedürfnis nach Anerkennung in der Besonderheit und Geschichte
des Individuums
- es gebe ein Recht auf Unterschiedlichkeit
- es gebe ein Recht auf ein eigenes Wertsystem und die eigene Sprache
(Erst-/Muttersprache).
Der Einzelne muss und soll für das Eigene eintreten, die eigene
Handlungspraxis, so nicht Rechte Anderer verletzt werden, verteidigen
können. Ein öffentlicher Gebrauch der eigenen Sprache, z.B.
Französisch in ganz Kanada, muss möglich sein.
Nach Taylor ist die Gegenposition des Universalismus (dasselbe Recht,
dieselben Pflichten für alle Menschen) selbst aus spezifischen Kulturzusammenhängen
erwachsen, die die westliche Aufklärung erst ermöglicht hätten.
Allerdings: Sind nicht bestimmte Menschenrechte (Gleichstellung
ungeachtet von Geschlecht, Religion, sexueller Präferenz, Religionsfreiheit,
Unantastbarkeit und Schutzwürdigkeit der Menschenwürde, keine
Strafe ohne zuvor geltendes Gesetz etc.) universell durchzusetzen?
Vertreter einer Position des Universalismus stellen
heraus, dass
- die Menschenrechte und die Menschenwürde universell und ethische
Grundprinzipien Teil humaner Austattung seien
- die Betonung eigener Kultur in einem Kulturalismus Benachteiligung
und Entfremdung, Klassengesellschaft, verdecken könne
- die jeweils ‘Anderen’ ausgegrenzt werden könnten bis
hin zum Rassismus der neuen Rechten
- der Alltagspraxis der Nimbus von Hochkultur (was habe die Alltagskultur
von Migranten mit der literarischen, musikalischen ... Hochkultur des
Herkunftslandes zu tun) nicht zukomme, der globale Kapitalismus habe
ohnehin zu einer Massenkultur geführt
- Kulturalismus münde in Homogenitätsforderungen, er unterdrücke
- an die Macht gelangt - gerade die Differenzen.
E. Said
(2009/2) Orientalismus. Frankfurt: Fischer
Ch. Taylor (2009) Multikulturalismus
und die Politik der Anerkennung. Frankfurt: Suhrkamp
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Schild an Hamburger Imbissbude ( ZEIT 28.2.08, 58) |