Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

  

▶ Nation

 

Nation (aus dem Lateinischen: natio a) 'Geburt', b) 'Abstammung, Herkunft', c) Volksstamm analog zu ethnos) gehört wie Ethnie zu den schweren und vieldeutigen Wörtern.
In der frühen Neuzeit bezeichnet das Konzept'Volk' und 'Stamm', die sich von anderen durch Sprache, Praktiken, Gesetze, Organisiertheit als soziales Gebilde, abgegrenztes Territorium abheben. Kant hebt gemeinsame Abstimmung und die Verbindung zu einem "bürgerlichen Ganzen" hervor.

In dem, was sehr spät Deutschland wurde, war vor allem die deutsche Sprache - wenngleich selbst ein vielfältiges Gebilde mit seinen Dialekten - das Band der Zusammengehörigkeit.

In der französischen Revolution spielt die Nation eine große Rolle, auch hier mit der zentralen Komponente 'Volk'. Zur Widersprüchlichkeit des emphatischen Konzepts trägt bei, dass das Volk eines Staates mehrere Nationalitäten umfassen kann, dass es Vielvölkerstaaten (z.B. das ehemalige Jugoslawien) gab und gibt. W.v. Humboldt trennt Staat und Nation.
Auf deutschem Boden fehlte ein Nationalstaat, nachdem lange das Heilige Römisches Reich deutscher Nation die Herrschaft der römisch-deutschen Kaiser seit dem Mittelalter bis 1806 bezeichnete. Deutschland bestand lange im Grunde aus einer Konfiguration von Fürstentümern mit schwacher übergreifender Herrschaft und Organisation, so war es im 18. Jahrhundert Napoleon nicht gewachsen. Die Ohnmachtserfahrung führte zum Erstarken eines Nationalgefühls und zur Hoffnung auf eine Nationbildung, die aber erst spät durch Krieg kam (1871, Versailles). Die Zeitverschiebung zwischen Revolution und Nationalstaat reflektiert Helmuth Plessner in dem Klassiker "Die verspätete Nation" (zuerst 1959).

Mit der Reichsgründung wurde der begehrte Nationalstaat Wirklichkeit und eine Entwicklung nachgeholt, die andere europäische Länder schon längst genommen hatten. Es fehlte im Grunde aber die Komponente der Selbstbestimmung und Verfassung gegenüber der französischen Revolution. Das erklärt andauernde nationale Übersteigerung, überbordenden und fremdenfeindlichen Patriotismus. Erst die Befreiung vom Nationalsozialismus konnte den Patriotismus und Nationalismus eindämmen. Nationale Gruppierungen blieben in Deutschland Minderheiten.

Der dem Nationskonzept innewohnende Homogenitätsgedanke - ursprünglich Rechtfertigung politischen Zusammenschlusses - kann das Zusammenleben in modernen, mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft erschweren: Statt auf Respekt, Verstehensanstrengung, gemeinsame Werten, Austausch, Toleranz zu setzen, wird eine vorgebliche Einheit beschworen und die Minderheit ausgegrenzt.

Nationenbildung (engl. nation-building) bezeichnet eine komplexe Entwicklung, die aus Teilgruppen eines Landes eine gemeinsame Gesellschaft und einen rechtlich verfassten Staat entstehen lässt. Soweit dieser Prozess militärisch von innen oder von außen durch eine fremde Macht (Irak) betrieben wird, hat er sich als äußerst problematisch erwiesen.

Ausdrücke der Nationszugehörigkeit sind Deutscher gegenüber Ausländer.

Literaturhinweise:
Benedict Anderson (1988) Die Erfindung der Nation. Frankfurt: Campus
Eric Hobsbawm (2004/3) Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/New York: Campus
Reinhart Koselleck (1972) Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Brunner, O., Conze, W. und Koselleck, R. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 141–431
Helmuth Plessner (1959) 2001) Die verspätete Nation. Frankfurt: Suhrkamp
Hans-Ulrich Wehler (2005) Nationalismus. Geschichte-Formen-Folgen. München: C. H. Beck