Forschungsfeld
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Quelle: Deutscher Anwaltsverein |
Ausschnitte aus einem Interview mit Annette Wilmes (Deutschlandradio Kultur 26.6.2006) (mp3 Datei: 2,3 MB)
Authentisches Beispiel:
Vernehmung eines Angeklagten (segmentierter Ausschnitt)
o1 A Ich weiß nur, dass der/ äh/ daß der
Riske diese Angaben der Polizei in Vechta machte, weil er da in Untersuchungshaft
war.
02
A Dass er dieses Haschisch gekauft hat in Holland, um es zu verkaufen
hier in Deutschland, das weiß/ hab ich von ihm.
03 S Ja, das is der zwei/ und das is der zweite Punkt,
ja.
04 A Ja, dass er hier in Deutschland verkaufen wollte,
aber jetzt wird/ beier Polizei/ rät ihm die Mutter, nich zu sagen: "Okay,
ich wollts verkaufen",
05 A da sacht er:"Nein, ich wollt es/ verrauchen."
06 A Aber da sagen die nur: "Na", und sacht die Polizei: "Nö,
könn Sie doch nich erzähln, Sie kaufen doch nich zwei Kilo,
um se zu rauchen."
07 A "Doch, doch, ich rauche sechs Pfeifen am Tach, ich rauche jeden/ in
jeder Pfeife is über n Gramm drin, darum brauch ich soviel."
08 A "Ja, okay, wir glauben Ihnen.
09 A Wie ist das mit Herrn Hasse und Herrn Riske?"
10 R Waren Sie nicht da?
11 A "Ja, die haben nich mitgeraucht."
12 A Dann bleibt in dem Moment/ ff/ die polizeiliche Aussage ersmal stecken.
13 A "Das könn Se uns nich erzähln.
14 A Sie könn/ Sie fahren mit denen dahin, rauchen/ fingen an zu rauchen,
und dann sagen Se, die wollten/ die wollten noch nich mal mitrauchen?"
15 A Hat der gesacht: "Okay, die ham mitgeraucht, ich will hier rauskommen."
16 R Warn Sie denn mit/ warn Sie denn mit in Amsterdam
am siebten sechsten?
(Hoffmann/Fall 17: A= Angeklagter, R=
Richter, S= Staatsanwalt)
Ein weiterer Ausschnitt kann hier heruntergeladen werden (pdf), dazu auch eine Tondatei (= MP3-Datei, 668 KB)
Die Kommunikation vor Gericht lässt sich durch Handlungsmuster, Äußerungsformen und die eingesetzten Strategien charakterisieren. Rechtstermini (z.B. Mensch, Sache) haben gegenüber dem Alltag eine spezifische Bedeutung, es werden unbestimmte Formeln gebraucht (Interesse des öffentlichen Verkehrs, niedrige Beweggründe) Gesetzestexte sind oft schwer verständlich oder nur im Kontext anderer Gesetze nachzuvollziehen, sie lassen sich nur begrenzt optimieren (vgl. Hoffmann 1992).Viele Handlungsmuster werden institutionell transformiert. In der Schule kennt der Fragende die Antwort, vor Gericht muss sich der Zeuge in der Antwort an die Wahrheit halten, während Angeklagte im Prinzip lügen dürfen oder auch zu den Vorwürfen schweigen können. Die Kommunikation ist strategisch bestimmt, denn man kann sich um Kopf und Kragen reden. Die Möglichkeiten des Angeklagten zeigt folgendes Schema (vgl. Hoffmann 1983 zu den Kommunikationsformen):
Das Strafrecht wird programmatisch
auf die materielle Realität angewendet; die Realität erscheint als Wirklichkeit der Beteiligten
und muss im Verfahren auf einen plausiblen Ausschnitt reduziert werden. Das
anzuwendende Recht muss seinerseits so bearbeitet werden, dass die fraglichen
Sachverhalte rechtsförmig, zum Fall werden.
Damit treten die Vermittlungsleistungen der Handelnden wie der verwendeten
Sprache in den Blick. In die Entscheidung darüber, was sich abgespielt hat, gehen
alltägliche Erwartungen und Plausibilitäten ein, die die Darstellungen
der Subjekte bestimmen, aber auch an sie herangetragen werden. Die Grundannahme
ist die, dass die Realität als gemeinsame zugänglich und intersubjektiv
verhandelbar ist.
Für das erkennende Gericht kommt alles darauf an, gute und darstellbare
Gründe zu finden. Begründen kann man aber nur auf der Basis von
Gemeinsamkeiten. Das Beweisspiel kommt stets irgendwann zu Nicht-Hintergehbarem.
Dies läßt
den Rückgang der Beteiligten auf kollektives Wissen notwendig erscheinen:
ob der Gutachter Unfallhäufigkeiten bei bestimmten Reifenprofilen anführt,
der Zeuge über ein Verhalten spricht, das für ihn Trunkenheit indiziert
oder Richter etwas als seiner Lebenserfahrung widersprechend und damit unplausibel
hinstellt. Interessant sind also auch die Wissensstrukturen,
auf die Beteiligte zurückgreifen. Eine zentrale Ressource der Darstellungen,
der Begründungen und Urteile sind Bilder von Normalitäten, die in
die Orientierungen der Aktanten eingehen. Maßgeblich für die Entscheidung
über Sachverhalte (Ereignisse/Geschichten) ist eine Normalitätsfolie
als kontrastiver Bewertungsmechanismus (vgl. Hoffmann 2002 mit weiteren Hinweisen).
Dies ist eine Wissensfolie normaler Abläufe der fraglichen Ereignisse
(Konstellation, Modus Operandi, Resultat etc.) und Typen von Aktanten (mit
spezif. Dispositionen). Sie hat die Form eines fundierten Glaubens, der sich
zu einem Bild verfestigt hat. Ihre Kennzeichen sind:
• es handelt sich um ein kollektives, in den relevanten Zusammenhängen
gesellschaftlich erarbeitetes Bild;
• Operationsbereich dieses Wissens ist wiederum Wissen, es ist also ein
Wissen zweiter Stufe;
• neben einem Alltagswissen, das nicht institutionsspezifisch geprägt
ist, gibt es institutionsspezifische Kollektivbilder;
• es generalisiert aus singulären Erfahrungen mit repetitiven Ereignisstrukturen,
die sich aus gegebenen Basiskonstellationen (BK) entfalten;
• es ist ein kategorisierendes Wissen, das Ereignisse und Dispositionen
als mehr oder minder normal (mit einer Übergangszone) ausweist;
• dies Wissen ist dynamisch, es unterliegt Kalibrierungen aufgrund von
neuen gesellschaftlichen Erfahrungen;
• es induziert handlungsbezogene Erwartungen als Extrapolationen;
• es löst retrospektiv Abduktionen aus, etwa von Abläufen oder
Resultaten auf Ursachen oder Dispositionen;
• es ist reflexiv-regulativ: <in BK handle ich wie die meisten anderen>.
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(erscheint)
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Th. M. Seibert (2004) Gerichtsrede. Berlin: Duncker&Humblot [forensischer
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Weitere Literatur zur Rechtskommunikation und Rechtstheorie