Sprachwissenschaft studieren...

Grund 7: Sprach- und Kommunikationsstörungen fordern uns heraus

Sprach- und Kommunikationsstörungen zu behandeln erfordert neben medizinischem und psychologischem auch linguistisches Wissen. Aphasien etwa sind Sprachausfälle aufgrund von Gehirnschädigungen, die nach abgeschlossener Sprachentwicklung auftreten. Die Ausfälle können Produktion oder Verstehen betreffen. Ihre Diagnose und Klassifikation kann neurologisch nach Lage der Schädigung erfolgen, sie kann aber auch linguistisch gemacht werden (Ausfall der Syntax, Beeinträchtigung der Intonation; Probleme der Wortfindung und des lexikalischen Verstehens). Störungen können sich auch auf die Lese- und Schreibfähigkeit oder die Stimme erstrecken. Die Sprachentwicklung kann grammatisch verzögert sein, der Redefluss durch Stottern gehemmt oder durch Poltern unangemessen erhöht sein.
Ein beeindruckender Therapiebericht ist das Buch von Kegel und Tramitz 1991.

Forschungen in diesen Bereichen geben Aufschlüsse über die Sprachverarbeitung und den Aufbau des Sprachsystems. Das gilt auch für die Versprecherforschung, die sich mit Fällen wie der bollende Bexer, Gruß und Guß, Mistörium befasst.

Beispiel: Ein Aphasie-Patient erzählt "Rotkäppchen":

Das Beispiel ist dem Buch von G. Blanken (ed.) (1991) Einführung in die linguistische Aphasiologie. Freiburg: Hochschulverlag, S.282, entnommen.

Der Patient hat eine "Wernicke-Aphasie". Allerdings darf man bei solchen Beispieln nicht zu normativ sein. Vieles ist einfach in der Grammatik der gesprochenen Sprache normal. Der Patient produziert einigermaßen flüssig, zeigt aber die typischen Störungen in der Wortwahl (Finden eines Wortes mit passender Bedeutung) und realisiert - damit zusammenhängend - auffällige Satzverschränkungen.
Die Wernicke-Aphasie wurde nach dem Breslauer Neurologen Carl Wernicke (1848-1905) benannt und hat als Basis eine Verletzung im sog. Wernicke-Zentrum des Gehirns (erste und zweite Windung des Schläfenlappens). Der Sprachfluss bleibt erhalten. Beeinträchtigt sind insbesondere das Sprachverständnis und die Bedeutungszuordnung, die Wortfindung und die Lautbildung. Die Sätze sind manchmal auffällig im Aufbau und im Gebrauch von Funktionswörtern (der, weil, denn etc.)

Die Broca-Aphasie hingegen beruht auf Schädigungen der Großhirnrinde im unteren Abschnitt der dritten Stirnwindung (Broca-Zentrum). Sie führen zu stockender Artikulation und vereinfachten grammatischen Konstruktionen, das Sprachverständnis ist aber weniger gestört. Benannt wurde die Aphasie nach dem französischen Chirurgen Paul Broca (1824-1880).

Literatur zu den angesprochenen Themen:

S. Baumgartner/I. Füssenich (eds.)(1999) Sprachtherapie mit Kindern. München: Reinhardt

W. Calvin/G.A. Ojemann (2001) Einsicht ins Gehirn. München: dtv
[an einem Fallbeispiel werden Einblicke in Gehirnstruktur und Sprachverarbeitung gegeben]

W. Hartje/K. Poeck (Hrsg)(2002/5) Klinische Neuropsychologie. Stuttgart: Thieme
[Lehrbuch-Überblick zu Störungen der Hirnleistung, empfehlenswert]

Ingram, J.C. (2007) Neurolinguistics. Cambridge: University Press

G. Kegel/C. Tramitz (1991) Kind ohne Sprache. Opladen: Westdeutscher Verlag
[lesenswerte Therapiegeschichte]

H. Leuninger (1993) Reden ist Schweigen, Silber ist Gold. Zürich: Ammann (München: dtv)
[Versprecher]

Marburger Versprechersammlung
Tutorium Sprache und Gehirn (Stuttgart, Phonetik)
Homepage von William Calvin
Gehirn-Atlas

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