Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

  

▶ Sprache und Sprachen

 

Die Sprache galt und gilt als das Charakteristikum des Menschen schlechthin. Komplexer Werkzeuggebrauch, differenzierte soziale Organisation, die Fähigkeit, sich in Andere zu versetzen, finden sich bei manchen Tierarten mehr oder minder ausgeprägt auch. Wirklich verständigen können wir uns aber weder mit Hunden noch mit Menschenaffen, auch wenn wir sie mit lautlichen oder gestischen Signalen zu spezifischen Aktivitäten veranlassen können. Verständigen heißt: Gedanken, Normen, Maßstäbe, Praxiswissen, sprachlich-kommunikatives, reflexives Wissen in der Weise verankern, dass wir beständig darauf explizit oder implizit zurückgreifen und unsere Handlungskoordination und Planung daran orientieren können.
Sprachliches Verständnis resultiert aus Teilhabe, aus geteilter Erfahrung der Praxis reziproken Handelns, das sich wiederkehrend bewährt, seine Zwecke erreicht.
Sprachliche Verständigung macht Anderen das eigene Denken, Wissen und Handeln mit seinen Möglichkeiten der Begründung zugänglich. Sprache ist am menschlichen Verarbeiten der Realität elementar beteiligt, erlaubt die Reflexion der Welt und bildet damit eine Schranke, die andere Lebewesen nicht überschreiten können. So wie Menschen der Zugang zu anderen Kommunikationssystemen und ihren Effekten nur über externe Beobachtung und Rückschluss auf die Praxis möglich ist.
So kann man auch Wittgensteins Diktum aus den „Philosophischen Untersuchungen“ verstehen:
„Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“ (Wittgenstein 2001:1078)
Eine linguistische Anthropologie charakterisiert den Menschen als Sprachwesen, das Mangel an Instinkt und physischer Stärke kompensiert und das Überleben durch intelligentes Problemlösen, Erfahrungsweitergabe und kommunikative Organisation sichert. Die Menschheit ist genetisch vergleichsweise homogen - verglichen etwa mit den Schimpansen -, wie Genetiker (z.B. die Leipziger Gruppe am Max-Planck-Institut um Pääbo) herausfanden. Die Versuchung, eine einheitliche, genetisch verankerte Sprachfähigkeit zu postulieren, ist groß, die Evidenz - sieht man von FoxP2 ab - begrenzt. Bemerkenswert ist die Sprachenvielfalt gerade in kleinen Regionen der Erde, bemerkenswert ist auch hohe Neuroplastizität des Menschen.

Betrachtet man die Welt der Sprachen, so sieht man bei jeder Sprache ein Spektrum zweckgebundener Varietäten: regionale und areale Varietäten wie die Dialekte und Umgangsvarietäten des Alltags, soziale und Altersvarietäten wie Lernervarietäten, die Jugendvarietät, Fach- und Sondervarietäten, die Varietät der Wissenschaft und andere. All diese Varietäten werden unzulässig oft auch Sprache genannt (Fachsprache etc.).
Ist eine Sprache wie Deutsch dann die Menge aller Varietäten? Gehören dazu fremdsprachliche Elemente, konservierte Namen aus anderen Sprachen und Mischsprachen? Oder ist diese Sprache eher, was alle Varietäten gemeinsam haben? Ist es die überdachende Hochsprache, der Standard, den alle Sprecher mehr oder minder dialektal beeinflusst sprechen und verstehen können?
Zur Frage: „Was ist Sprache?“ vgl. auch meinen Reader „Sprachwissenschaft“ (2010/3), der klassische Texte versammelt und ein Weiterlesen gestattet.

B. Comrie (Hg.) (1987) The World's Major Languages, London: Routledge
H.Haarmann (2002/2) Kleines Lexikon der Sprachen. München: Beck
K. Ehlich (2007) Sprache und sprachliches Handeln. Bd.1-3. Berlin/New York: de Gruyter
L. Hoffmann (2005) Universalgrammatik. In: OBST 69 Paradigms lost, 101-131. preprint
L. Hoffmann (2005) Reflexionen über die Sprache: de Saussure, Bühler, Chomsky. In: Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.)(2005) Jahrbuch 2004. Bielefeld: transcript, 79-111. preprint
L. Hoffmann (2007) Der Mensch und seine Sprache - eine anthropologische Skizze. In: A. Redder (Hg.) (2007) Diskurse und Texte. Festschrift für Konrad Ehlich zum 65. Geburtstag. Tübingen: Stauffenburg, 21-37
L. Hoffmann (2009) Sprache. In: E. Bohlken/C. Thies (Hg.) Handbuch Anthropologie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 426-430
L. Hoffmann (2011) Kommunikative Welten - das Potenzial menschlicher Sprache. In: Hoffmann, L./Leimbrink, K./Quasthoff, U.(Hg.) (2011) Die Matrix der menschlichen  Entwicklung. Berlin/Boston: de Gruyter, 165-210 preprint
M. Krifka et al. (Hg.)(2014) Das mehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Heidelberg: Springer VS [einfach gehaltene Sprachenporträts, zumeist aus generativer Sicht]

 

> Bibliographien

 

  

 

 

 

 

 



Herkulaneum