Kleines ABC:  Migration & Mehrsprachigkeit

Ehre


Ehre
(türk. namus) bezeichnet in vielen traditionellen und alten Gesellschaften einen Wert, der einer Person oder Gemeinschaft zukommt und verletzt werden kann, etwa durch beleidigende Äußerungen, Wortbruch, Entehrung der Tochter oder Frau einer Familie. Es kann auch eine Frau als Person betrachtet werden, die Schande über eine Familie gebracht hat (Ehebruch, böswilliges Verlassen, Verlust der Jungfräulichkeit etc.). Ein Angriff auf die Ehre, der nicht abgewehrt wird, ein Gesichtsverlust, bringt Schande. Die Schande betrifft den äußeren Status. Ehrlosigkeit ist ein sozialer Tod. Die Umwelt einer Familie, die Sichtbarkeit von Handlingsweisen, die Gültigkeit alter Normen spielen also eine wichtige Rolle. Ehrbaren Menschen zeigt man Respekt. Es gibt einen sozialen Anspruch auf Respekt. Die Idee gegenseitigen Respekts und der Integrität der Gruppe und ihrer Angehörigen steht hinter dem Konzept der Ehre.

Die Ehre einer Gemeinschaft wird vor allem von Männern verteidigt ("la vertu virile par excellence" (Bordieu n. Burkhard 2006:198). (Bekannt ist der Kopfstoß von Zidane im Endspiel der Fußball-WM 2006.) Konflikte werden durch Selbsthilfe, durch physische Gewalt gelöst, so dass das Gewaltmonopol des Staates - soweit es existiert - außer Kraft gesetzt ist. Damit es zu Angriffen auf die Ehre nicht erst kommen kann, werden Frauen in solchen Gemeinschaften manchmal von Männern und älteren Frauen streng kontrolliert, da die Auffassung herrscht, die Ehre des Mannes sei von der Ehre ihm zugeordneter Frauen abhängig. Die Ehre einer Frau zeigt sich in zurückhaltendem, schamhaften, treuem (Ehefrau) Verhalten, in manchen Gesellschaften darf nicht einmal Zuneigung gegenüber dem Ehemann öffentlich manifest werden oder gar öfter mit männlichen Nachbarn geredet werden. Für unverheiratete Frauen gilt häufig Jungfräulichkeit als (beweispflichtige) Bedingung der Ehre. In Extremfällen wird versucht, die Ehre durch eine Bluttat, etwa den Ehrenmord, wiederherzustellen. Vor allem trifft das Mädchen und Frauen. In selteneren  Fällen geht es auch um anderes als abweichend definiertes Verhalten wie etwa homosexuelle Handlungen. Auch die archaische Blutrache, die sich typischerweise gegen Männer richtet, gehört in diesen Kontext und war in Europa weit verbreitet, kommt auch heute noch vor.

Religiös ist dies nicht direkt zu begründen. Eine Beschränkung auf Mittelmeerkulturen ist nicht statthaft, eine vergleichbare Praxis findet sich in unterschiedlichen Kulturen vor dem Islam, in Asien und Südamerika, auch im alten Europa, wo bestimmte Berufe als ehrlos galten, eine Standesehre existierte, man betrachte germanische Heldenlieder, Adelskonventionen etc.

Unter Migrationsbedingungen entfällt die kontrollierende Gemeinschaft des Dorfes, für die symbolische Markierung einer "ethnischen Unterklasse" (Schiffauer) werde aber auf Ehrkonzepte oder äußere Zeichen wie das Kopftuch zurückgegegriffen.

Die Ehre einer Familie kann auch auf die Ehre einer Gruppe, z.B. einer Gang, und den Respekt ihren Anführern gegenüber übertragen werden. Das führt manchmal zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen solchen Gruppen (z.B. Jugendbanden). Ein Transfer auch auf die Nation ist möglich, man denke an Vereidigungsformeln für Soldaten, die den Ausdruck Ehre enthalten, an die strafrechtliche Verfolgung einer Beleidigung des "Türkentums" etc.

In den meisten Staaten werden Ehremorde als Morde streng bestraft, in wenigen Ländern (z.B. Pakistan, Afghanistan) auch milder.

Die mediale Diskussion in Deutschland anlässlich von Ehrenmorden war und ist oft vorurteilsbehaftet und wenig sachkundig; bestimmte Praktiken werden sehr schnell als islamisch-patriarchalisch gedeutet. Es existieren zahlreiche Verarbeitungen in Büchern (Livaneli) und Filmen (z.B. Yol) mit unterschiedlicher Qualität. Deutsche Gerichte habe bis vor etwa 20 Jahren Ehrmotive anerkannt; heute nimmt man die hiesigen Wert- und Rechtsvorstellungen als allgemein bekannt und zu akzeptieren an. Auch im türkischen Recht gibt es mittlerweile keine Milderung aus gründen der Ehre mehr, Ehebruch ist nicht mehr strafbar. Als Konfliktbeispiel kann die Darstellung von Schiffauer gelesen werden

 

Literatur und Links:

D. Burkhart (2006) Eine Geschichte der Ehre. Darmstadt: WBG
Z. Livaneli (2008) Glückseligkeit. Stuttgart: Klett Cotta
W. Schiffauer (1983) Die Gewalt der Ehre. Frankfurt: Suhrkamp

Interview zu Ehrenmorden mit W. Schiffauer in der taz
Ehrenmord.de
BKA-Bericht