Ziele
: Warum wir die Tagung machen

Auf gut 50 Jahre Geschichte blickt die gegenwärtige Migration in Deutschland zurück. Am 20. Dezember 1955 wurde in Rom eine Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften unterzeichnet. 1960 folgten weitere Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal und 1965 mit Tunesien, 1968 mit Jugoslawien. Zwischen 1955 und 2005 sind 33 Millionen eingewandert; zugleich haben aber über 20 Millionen Menschen Deutschland verlassen. 1964 wurde der millionste Migrant begrüßt.

Im 19. Jahrhundert gab es eine polnische Einwanderung ins Ruhrgebiet (Arbeitskräftemangel im Bergbau), die als durchaus konfliktgeladene Assimilation verlief. Die jüngere Anwerbung zielte auf vorübergehenden Aufenthalt ("Gastarbeiter"), Deutschland sollte kein Einwanderungsland - wie etwa die USA - sein. Das war eine jahrzehntelang gehegte Illusion, rechtfertigte aber, dass lange wenig für die Teilhabe an der Gesellschaft und am Bildungssystem unternommen wurde.

In den 80er Jahren verstärkten sich die Bemühungen, Kindern der Migranten eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Muttersprachlicher Unterricht wurde nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Migrantenorganisationen (BAGIV (1983) Memorandum zum Muttersprachlichen Unterricht) gefordert. Hintergrund war die Auffassung von Mehrsprachigkeitsforschern, dass ein gutes Niveau in der Erstsprache für die kognitive Entwicklung und für den Zweitspracherwerb von großer Bedeutung sei.

Mittlerweile sprechen wir von der dritten und vierten Generation der Migranten in Deutschland. Im Ruhrgebiet werden in Städten wie Dortmund und Essen neben der deutschen Sprache Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch, Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Italienisch, Griechisch gesprochen. Etwa ab 2000 wurde die Einwanderung auch politisch als solche zur Kenntnis genommen und „Integration“ fand Eingang in Parteiprogramme.

Es ist bis heute nicht wirklich gelungen, Mehrsprachigkeit als Dimension der Bildung und der Gesellschaft zu verankern und die Perspektive auf das Potential Mehrsprachiger zu lenken. Statt Bildungssystem, Lehrerausbildung und Richtlinien grundlegend zu ändern, wird den Migranten neuerdings die Schuld an Problemen gegeben („Integrationsverweigerung“, „Parallelgesellschaften“), als habe nicht die Gesellschaft sich jahrzehntelang passiv verhalten und volle gesellschaftliche und politische Teilhabe verhindert oder an eine Assimilation gebunden.

Sprachenpolitisch wurden die Migrantensprachen als Sprachen zweiter Klasse behandelt, die – wenn überhaupt – in der Familie, aber nicht auf dem Schulhof, schon gar nicht als schulische Arbeitssprache zu dulden seien. Ernstnehmen der Mehrsprachigkeit würde bedeuten, dass Migrationssprachen als Schulsprachen angeboten und mehrsprachiger Unterricht ermöglicht würde, dass Institutionen lernten, mit anderen Sprachen als Deutsch umzugehen und Mehrkulturalität als etwas Natürliches angesehen würde.

Es gilt die wachsende Bereitschaft, gerade auch an der Basis, zu nutzen, neue Formen und Konzepte des Zusammenlebens unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität zu entwickeln und kreativ zu gestalten. Förderung wird kooperativ gestaltet, bezieht die Migranten und ihre lokalen und überregionalen Organisationen ein. In der Vorschule und Schule kann man sehen, in welchem Maß der Erfolg an eine gelingende Elternarbeit gebunden ist, mit der auch bestehendem Bildungsgefälle entgegengearbeitet werden kann. Gelingt dies, so wechselt der Fokus von „Migration“, „Migrationshintergrund“, „Zuwanderungsgeschichte“ etc. zu gleichberechtigter Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Ressourcen.

Die Tagung thematisiert neue Perspektiven und akute Problemlagen mit besonderem Blick auf die Bildung. Sie soll einen wissenschaftlichen Dialog im Rahmen der Migrationsdebatte anregen.

Das Ziel der interdisziplinär ausgerichteten Tagung besteht darin, Wissenschaftler/innen mit Experten aus Praxisfeldern zusammenzubringen, um neue Fragestellungen und Horizonte zu entwickeln. Fest steht: Die ausschließliche Fokussierung auf die Erstsprache Deutsch in den Schulen und Tageseinrichtungen wird der Mehrsprachigkeit als einer natürlichen Ressource und einem zu nutzenden Potenzial nicht gerecht; die Fixierung auf eine monolinguale und kulturell homogene Gesellschaft unterhält eine brisante Illusion.

 

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