Rassismus? Kulturelle Diskriminierung? Medienhype um gestrige Thesen? Latente Verstärkung von Vorurteilen?

Thilo Sarrazin (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: DVA

Angeblich spricht Thilo Sarrazin "Wahrheiten" aus, zeigt "Mut".  Welche Wahrheiten, sagt die Presse aber nicht, wieso das Mut erfordert, auch nicht. Wieso sucht man angesichts an schreckliche Zeiten erinnernder Argumentationsweisen noch nach Körnchen Wahrheit? Was kann man alles schreiben, bis man disqualifiziert ist? In der Wissenschaft z.B. geht das sehr schnell. Die Presse saugt Honig auch aus Vorurteilen - nun führen wir eine härte Integrationsdiskussion etc. heißt es.

Vergleichen Sie die Argumentation von Thilo Sarrazin mit einschlägigen Texten der letzten 120 Jahre, mit Galtons "Eugenik", mit Max Webers Überfremdungsängsten angesichts "slawischer" Migranten. Sarrazins Thesen finden Sie z.B. im ZEIT-Interview. Oder im Spiegel-Vorabdruck. Tagesschau.de hat wichtige Gegenargumente zu den gesellschaftspolitischenThesen Sarrazins, so weit über die überhaupt zu diskutieren ist, zusammengestellt. Ohne den Medienhype im Blätterwald müsste man über die kruden Thesen von Sarrazin nicht diskutieren, so aber kommen sie bei Teilen der Bevölkerung an und können Vorurteile bestätigen oder verstärken.

Sarrazin behauptet, dass zu viele genetisch minderbegabte Migranten die deutsche Gesellschaft in ihren Zukunftschancen und ihrer Produktivität beeinträchtigten. Im Bildungsbereich liegen zu Migrantengruppen sehr differenzierte Ergebnisse vor, die zu ganz anderen Interpretationen führen. Auch die Statistiken zu Unternehmensgründungen etc. sprechen eine andere Sprache. Und Migranten, die früher bildungsferner waren, erkennen die Bedeutung guter Ausbildung und fördern ihre Kinder. Sogar die Politik hat erkannt, dass wir eine transkulturelle Gesellschaft haben und unseren Kindern (allen Kindern) individuell geholfen werden muss, so dass sie Erfolg haben können. Soziale Milieus schreiben Bildungschancen nicht fest. Das ist vielfach belegt. Leider werden aber auch die Statistiken von Sarrazin sehr selektiv berücksichigt und einseitig (vorurteilsgemäß) gedeutet. Aus Befunden werden Prognosen, im Sinn der These unpassende Differenzierungen werden nicht geamcht etc. Die gegenwärtige Entwicklung zeigt, dass man im Bildungsbereich (viel zu spät) beginnt, Migrantenkinder ernst zu nehmen und ernsthaft zu fördern - auch wenn im Bereich Mehrsprachigkeit (Türkisch/Russisch an deutsche Schulen!) noch zu wenig passiert. Gefordert wurde die Förderung schon Anfang der 80er Jahre, weitgehend ohne Folgen. Stattdessen mussten Diskriminierungen ausgehalten werden, wie auch jetzt, wenn man die Gruppe selbst verantwortlich macht, weil sie "dümmer" sei. Ein schwer erträglicher Diskussionszusammenhang.
Die genetische Argumentation Sarrazins allerdings ist wissenschaftlich ganz haltlos. Wer über Genetik schreibt, sollte sich damit befasst haben. Und wissen, welche Assoziationen er weckt ("Eugenik", "Selektion").
"Welt am Sonntag: Gibt es auch eine genetische Identität?
Sarrazin: Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden."
(Interview mit der Welt am Sonntag (29.8.10))
"Mit seinem mehrfach wiederholten Satz 'Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich' zeigt Thilo Sarrazin, dass er Grundlegendes über Erblichkeit und Intelligenz nicht verstanden hat", so die Psychologin Elsbeth Stern - auf die er sich berufen hat - in der Wochenzeitung DIE ZEIT (21.9.2010, S.37f.). FAZ.net hat ein Interview mit Frau Stern (2.9.10).

Ein guter Beitrag zu Genetik und Intelligenz ist der von Diethard Tautz in der taz vom 17.3.2012.

Sarrazin hat - wohl der Brisanz halber - dazu am 30.8. eine Erklärung abgegeben, die seine genetische Aussagen etwas relativiert und kulturelle Differenzen betont - er wechselt gern die Variante und schlägt Haken (argument hopping).
"Damit ist keinerlei Werturteil verbunden, damit ist auch nichts über eine wie auch immer zu verstehende „jüdische Identität“ ausgesagt. Die Frage, was aus möglichen genetischen Übereinstimmungen von Bevölkerungsgruppen zu schließen ist, ist vollkommen offen. Entscheidend für politische und wirtschaftliche Sachverhalte, die im Zentrum meines Buches stehen, sind kulturelle Faktoren." (Sarrazin, Erklärung vom 30.8.10, FAZ.Net)

Erinnern wir uns: Schon 2009 hatte Sarrazin in einem Interview mit Lettre International (3/2009) gesagt:
"Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären, mit einem 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung."  (...) "Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert."

Drohende Überfremdung – das ist ein altes Angstmotiv in rassistischen Diskursen, auch bei Sarrazin. Tatsächlich zeigt die Wissenschaft, dass Einwanderer rasch die Gepflogenheiten des Aufnahmelands annehmen, also etwa weniger Kinder bekommen. Die Geburtenrate der Deutsch-Türkinnen liegt etwa bei 1,4 und ist damit nahe bei der Rate der Ureinwohner (vgl. Saunders 2012).

Was steckt hinter dem Medienhype ... wenn doch klar ist, dass Sarrazin unwissenschaftlich argumentiert?
Ist es nur die Sucht nach Quote, Absatz und Sensation? Oder äußert Sarrazin Vorurteile, die manche teilen und nun ungestraft zirkulieren können? Wobei es egal ist, was Sarrazin genau sagt oder schreibt?

Update 2014: neues Buch, nichts Neues von Sarrazin – meinen taz und der Migrationsforscher Klaus Bade in migazin.

Zur deutschen Diskussion:

Literatur:

Klaus J. Bade (2013) Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, "Islamkritik" und Terror in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach: Wochenschau-Verlag

Patrick Bahners  (2011) Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift. München: Beck
Wolfgang Benz (2012) Die Feinde aus dem Morgenland. Müchen: Beck
Daug Saunders (2012) Mythos Überfremdung. München: Blessing
Hilal Sezgin (Hg.)(2011) Manifest der Vielen: Deutschland erfindet sich neu. Berlin: Blumenbar

Lesenswert zu Sarrazins Daten sind die Ergebnisse der Berliner Politologin Naika Foroutan, die ein Forschungsprojekt über "Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle" leitet.

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> Lesenswert zur Debatte auch der Kommentar der Soziologin Naika Foroutan in der Berliner Zeitung und

Naika Foroutan: Wer ist wir? Wie mich die Sarrazin-Debatte zur Verteidigung der Muslime zwang.

> Integrationsverweigerer

Zur Islamdebatte der Journalist Straub (ZEIT) und Bahners, Die Panikmacher (FAZ-Auszug) - rezensiert in der FAZ von Th. Sarrazin.

Kommentar

Wovon soll die Migrationsdebatte 2010ff., die eine Islamdebatte geworden ist, ablenken?

Von den Versäumnissen aus 30 Jahren Integrationspolitik? Dass seit Jahren mehr (und gut Ausgebildete) abwandern als zuwandern? Dass es in Integrationskursen viel zu wenig Plätze, aber hohe Nachfrage gibt? Dass Diskriminierte nicht nur stumme Opfer sind, sondern manchmal auch zurückschlagen?

Davon, dass für Bildung kein Geld bereit steht und die Unis und Schulen weiter verkommen?

Hartz IV-Problematik? Gruppen mit Schwierigkeiten gegeneinander ausspielen?

Davon, dass niemand klären kann, was "deutsche Kultur" - jenseits regionaler Subkulturen - sein könnte? Allenfalls das Grundgesetz könnte leiten, dann aber gäbe es die gegenwärtige Konfrontation nicht.

Für eine journalistische Ethik
Die Medien bezeichnen sich gern als "vierte Gewalt". Wenn sie das sein wollen, müssten sie eine Verantwortung der Gesellschaft und den menschen gegenüber wahrnehmen.
Sie dürften keine Diskussionen anzetteln, um Politikern Gelegenheit zu geben, Stammtischparolen auszugeben - auf Kosten von Minderheiten. Sie dürften nicht diskriminieren, schon gar nicht eine Weltreligion. Sie könnten sich nicht länger auf ministeriale Verlautbarungen oder gar die Parteizentralen oder Konzern-PR stützen. Sie müssten sich wieder gut informieren, auch wissenschaftliche Texte können nicht schaden, richtig recherchieren, statt aus dem Netz abzuschreiben...
Aber: darf der Journalismus das? Gibt es (noch) eine journalistische Ethik? Wo melden sich die zu Wort, die eine solche Ethik vertreten?

"Mist zu Gold": Hilal Sezgin resümiert in der taz die unselige Sarrazin und Co. Debatte des Jahres 2010. S. am Orde und T. Strothjohann machen sich Gedanken über die Sarrazin-Leser und kommentieren Sarrazins Statistiken auf der Basis von Erhebungen der Berliner Politologin Naika Foroutan, die im Netz stehen und lesenswert sind.
Zum Thema auch: Jakob Augstein, der in Spiegel-Online deutsche Sarrazin- und französische Hessel-Rezeption iuns Verhältnis setzt.

Zur Islamdebatte der Journalist Straub und Bahners, Die Panikmacher (FAZ-Auszug)