Diskursanalyse

Beispiel: Kommunikation vor Gericht

Amtsgericht: R= Richter; A = Angeklagter ("Herr Singer"); Z = Zeuge ("Herr Wenz"); / = Abbruch)

R: Sie hatten jetzt ne Frage, Herr Singer?
A: Einmal zu der Flasche Wacholder, Herr Rolf hat vorhin bestätigt, daß die
Flasche unangebrochen/
R: ja, haben sie ne Frage an Herrn äh äh Wenz?
A: Herr Wenz hat jetzt behauptet, wir haben von der Flasche getrunken.
Z: ja, es fehlt / ich hab gesagt, es fehlte son Stückchen.
R: War die vorher äh voll und äh zu?
Z: Muß ich annehmen.
R Ham sie noch ne Frage?
A Ja, und zwar folgende: das Rad konnt ich nicht mitnehmen/
R Ja, sie machen jetzt/ Sie/ sie reden immer äh/ ne Frage bitte an den Zeugen! Welche Frage soll er beantworten?
A: Herr Wenz kann wahrscheinlich/
R "Wahrscheinlich" stellt auch keine Frage, Frage is mit Fragezeichen dahinter!
A: War das Rad/ Luft ab, ja oder nein?
Z: Hö das kann ich nich sagen.

Hinweise zum Verständnis des Beispiels

Alle, die eine Sprache können, können fragen. Vor Gericht kontrolliert der Vorsitzende das Rederecht. Er befragt selbst oder gibt das Fragerecht an den Staatsanwalt oder Verteidiger. Dass Angeklagte das Fragerecht bekommen, ist eher die Ausnahme und erfordert Initiative. Im Beispiel fällt auf:
- der Angeklagte redet eher über Herrn Wenz als mit ihm;
- seine Ansätze können als Einstieg in eine argumentative Auseinandersetzung gelten;
- der Richter kontrolliert die Äußerungen des Angeklagten. Er orientiert sich an einem allzu engen Fragebegriff, der einige Frageformen (z. B. Ich möchte Sie fragen, ob; sag mir x... ) ausblendet.

Der Angeklagten realisiert schließlich, was er für die Minimalform einer Frage hält. Für den Vorsitzenden wäre ein kurzer Informationsaustausch im Frage-Antwort-Format akzeptabel. Nicht tolerierbar ist für ihn, wenn das Fragerecht so wahrgenommen wird, wie er selbst, der Verteidiger oder der Staatsanwalt es wahrnehmen. Sie stellen nicht bloß isolierte Fragen, sondern entwickeln im Anschluss an die Darstellung von Zeugen oder Angeklagten einen argumentativen Zusammenhang. Sie suchen die Plausibilität des Vorgebrachten zu erschüttern oder zu erhärten. Dabei werden die fraglichen Sachverhalte schrittweise rechtsförmig und bewertbar gemacht. Die rechtliche Bewertung bleibt in den Händen der Institutionsvertreter, und sei der Angeklagte auch selbst Jurist.
Der Vorsitzende lässt Fragen zu, nicht aber eine Vernehmung des Zeugen durch den Angeklagten oder eine von ihm gesteuerte Argumentation. Hier gibt es institutionelle Grenzen. Der Angeklagte ist weitestgehend darauf beschränkt, auf Fragen oder Problematisierungen, auf Aufforderungen zur Darstellung oder Stellungnahme zu reagieren. Wie sich die Dinge rechtlich entwickeln, kann er aufgrund fehlenden Wissens kaum verfolgen; er muss vielfach sehen, dass seine Strategie (Leugnen; Ausweichen; Entschuldigungsgründe anführen etc.) im Lauf der Vernehmung durchkreuzt, seine Darstellung unplausibel wird. In anderer Situation würde er rechtzeitig eingreifen, Gegenstrategien einsetzen. Ihm fehlt nicht nur rechtliches Wissen, ihm fehlen auch die Handlungsmöglichkeiten, ein weiteres Fragerecht etwa, Konfrontationsformen wie Bestreiten oder Anzweifeln.

Im Beispiel sieht der Angeklagte eine Möglichkeit, initiativ zu werden und in eine Auseinandersetzung einzusteigen. Dazu will er den Zeugen einsetzen. Mit diesem Plan scheitert er an den Gegebenheiten. Er verspielt sogar die minimalen Chancen, die ihm der Vorsitzende einräumt und kommt nur zu zwei Fragen, die für den weiteren Prozessverlauf keine Rolle spielen. Hinter diesen Fragen steht aber ein breiter zu entwickelnder Zusammenhang, eine zur Anklage alternative Geschichte, die nicht durchdringen kann. Es ist übrigens schon möglich, aus einer solchen Position unverlangte Sachverhalte einzubringen oder argumentative Effekte zu erzielen. Dies setzt aber einiges Geschick voraus, das viele Angeklagte und Zeugen nicht aufbringen. 

Weiteres hier...

Dazu habe ich mehr geschrieben:

L. Hoffmann (1983) Kommunikation vor Gericht. Tübingen: Narr
L. Hoffmann (ed.) (1989) Rechtsdiskurse. Tübingen: Narr
L. Hoffmann (1992) Wie verständlich können Gesetze sein? in: G. Grewendorf (ed.), Rechtskultur als Sprachkultur, Frankfurt: Suhrkamp, 122-157 L. Hoffmann (1994) Juristische Kommunikation: eine Verhandlung vor dem Amtsgericht, in: K. Ehlich/A. Redder (eds.), Gesprochene Sprache. Transkripte und Tondokumente, Tübingen: Niemeyer, 19-91
L. Hoffmann (2000) Transkriptbeispiel: Kommunikation in der Strafverhandlung, in:Sprachwissenschaft. Ein Reader. Berlin/New York: de Gruyter (2. Auflage) Tondatei dazu als Download: hier
L. Hoffmann ( 2001) Gespräche im Rechtswesen, in: G. Antos/K. Brinker et al. (eds.), Text- und Gesprächslinguistik Bd.2. HSK. Berlin/New York: de Gruyter, 1540-1555.
L. Hoffmann (2002) Rechtsdiskurse zwischen Normalität und Normativität, in: U. Hass-Zumkehr (ed.), Sprache und Recht. Berlin/New York: de Gruyter, 80-100

 

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