Sprachwissenschaft studieren...
Grund 3:
Der Spracherwerb ist ein einzigartiges Phänomen.

 

 

Eva ist vier Jahre alt und spricht mit der Erzieherin (Erz.) im Kindergarten
Sarah Hast du morgen frei↑
Erzieherin Neìn Morgen is doch Kindergarten↓ •• Willst du morgen nicht kommen↓
Sarah Dann • sag ichs meiner Mama dass morgen wieder Kindergarten auf is↓
Erzieherin Ja und dann was machst du dann↑
Sarah Dann geh ich zu dir↓ ••
Erzieherin Ach- dann kommst du zu mir↓
Sarah Ja dann komm ich zu dir↓ •• Dann lauf ich die Strecke und dann machst du mir die Türe auf↓
Erzieherin Willst du dann hier reinkommen↓
Sarah hm̆ •• Wir machen Genick heute↓
Erzieherin Was↑ ••
Sarah Genick↓ ••
Erzieherin Ach • Picknick ist heute↓ • Sag mal Picknick↓
Sarah •• Ich mach hiern Kasperle↓
Zeichen: • kurze Pause; •• lange Pause; ↓ fallender Ton; ↑ steigender Ton; → schwebender Ton; hm̆   fallend-steigender Ton

Aufnahme/Transkription: Ludger Hoffmann

 

Sprachen lernen heißt: sich neue Welten erschließen, neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen, die eigene Sprache besser zu verstehen. Jede(r) braucht Sprachen - aber wie lernt man sie, zumal wenn man nicht ganz jung ist? Kinder laufen nicht mit Wörterbüchern oder Grammatiken herum, sie lernen rasch, was sie brauchen - vielleicht, weil sie dafür besonders sensibel sind, sich anders einlassen auf ihre Mitwelt. Erwachsene haben Angst vor Fehlern, sind langsamer, planen ihre Äußerungen intensiver, tun sich schwer mit der Aussprache. Zu verfolgen, wie Kinder eine odere mehrere Sprachen erwerben, ist aufregend und lässt zugleich den Sprachaufbau verstehen.

Das Gehirn des Säuglings ist von ungeheurer Plastizität, das Netz der Nervenzellen ist zeigt eine gleichmäßige, empfangsbereite Struktur. Durch die Anregungen der Umgebung werden spezifische Bahnen und die Synapsen als Schaltstellen verstärkt, so dass das Netzwerk eine individuelle Ausprägung bekommt. Je mehr Impulse hereinkommen, um so besser kann sich das System ausbauen, um so leistungsfähiger kann es werden. Es bedarf also einer reichen, vielfältig anregenden Lernumgebung. Beim Erwachsenen zeigen sich feste Verdrahtungen in einem starreren System, das zwischen Pubertät und 20 Jahren seine feste Gestalt erhält. Auch später noch können aber neue Verdichtungen entstehen, z.B. wenn jemand als Erwachsener intensiv Klavier lernt. Die folgenden Grafik illustriert diese Prozesse:

Spiegel special: Lernen zum Erfolg 3, 2002, S.91

 

Wenn früh eine zweite Sprache parallel zur ersten erworben wird, wird weitgehend dasselbe Netz im Gehirn in Anspruch genommen, etwa im sog. Broca-Zentrum. Bei erheblich späterem Erwerb werden neue Netzstrukturen aufgebaut. Dies zeigen die folgenden Bilder von den Hirnaktivitäten dreisprachiger Probanden, die die Sprachen früh bzw. erst nach dem 10. Lebensjahr erworben haben:

Hirnaktivitäten bei mehrsprachigen Probanden (aus Gehirn&Geist 2, 2003, S.50)

 

Betrachten wir nun den Lauterwerb. Etwa ab der 2. Woche werden die Schreie des Kindes durch ruhigere, vokalische Grundlaute abgelöst, die Gefühlszustände ausdrücken. Wiederholungen klingen wie Gurren. Schon mit einem Monat reagieren Kinder auf den Unterschied zwischen p und b (erhöhte Nuckelfrequenz). Der Vokaltrakt nähert sich der Form, die er beim Erwachsenen hat. Hier können Sie ein Kind im Alter von 12 Wochen hören, in der Phase des vorsilbischen Gurrens: Mit ca. 4 Monaten setzt eine Phase ein, die den Stimmapparat mit seinen Möglichkeiten (Klangfarbe, Modulation) erkundet, erst mit 6 Monaten werden Konsonanten häufiger gebildet und es beginnen die Phasen des Babbelns und Silbenplapperns (ba, da, ga; dada, mama, gaga). Jetzt findet man Laute, die in anderen Sprachen der Welt existieren und dort Kontraste bilden, also im Spanischen, Chinesischen, Arabischen usw. zu finden sind, bevor dann eine Einschränkung in Richtung der Muttersprache passiert. Mit etwa 12 Monaten werden wortähnliche Einheiten gebildet, das Babbeln geht aber noch weiter.

Mit 3 Jahren sind die Vokale, erst zwischen 4 und 7 Jahren auch alle Konsonanten vorhanden. Schwieriger sind l,r,sch, dsch,tsch, stimmhaftes s und im Englischen stimmhafte Verschlusslaute (b,d,g) am Ende. Erklärungsbedürftig sind u.a. das Verhältnis der Lautentwicklung zu kommunikativen Entwicklung (Kontinuitätsfrage) und die Rolle des Ausprobierens. Wenn ein Kind nane sagt und 'Banane' meint, verfügt es dann schon mental über die Einheit Banane, muss sie aber in der Aussprache reduzieren?

Wie sich die Komplexität der Äußerungen entwickelt, hier gemessen an der durchschnittlichen Zahl der kleinesten bedeutungstragenden Einheiten (Morpheme) zeigt die Übersicht aus der klassischen Studie von Roger Brown u.a.:

                             

 

Phase Äußerungslänge Alter (ca.) Form
a Lautketten 0-6 Monate nicht-silbische Gurrelaute; Kontaktlaute, Schlaflaute, Trinklaute, Missbehagenslaute, Behagenslaute
b Silbenketten 6-12 Monate silbische Gurrelaute (bababa, gagaga...)
I 1 1-1;6 Einwortäußerungen (mama; ball; da; auf; mehr...)
II 1-2 1;6-2 Frühe Syntax: Einwort-/ Zweiwortäußerungen (mama ball; mehr saft...)
III 2-3 2-2;6 Mehrwortäußerungen, satzförmig
IV 3-4 2;6-3;5 Erweitere Syntax: Einfache Sätze
V 4 und mehr Wörter 3ff. Komplexe Sätze, Nebensätze

Schon die Einwortäußerungen realisieren zweckhafte Handlungen, meist Aufforderungen oder Aussagen. Sie haben auch das typische Tonmuster. Ihre Leistung erbringen frühe Äußerungen eigenständig. Man sollte ihnen nicht eine komplexere Erwachsenengrammatik (mit Tilgung einzelner Teile aus Vereinfachungsgründen) unterlegen. Interessant ist, dass zu Beginn der Grammatikentwicklung (II, III) die Abfolge nicht fest ist oder wann etwa die im Deutschen schwierige Verbposition erworben ist (ca. 3-3,5 Jahre). Das Verb kann ja an erster (Spring jetzt! Schläfst du?), an zweiter (Sie springt jetzt) oder letzter Position realisiert werden (...weil sie gesprungen ist), während sie im Englischen z.B. festliegt (Paula hit Paul).

Der Erwerb sprachlicher Handlungsfähigkeit setzt eine Umgebung voraus, die das Kind systematisch einbezieht und durch Kommunikation fördert. Erster wechselseitiger Blickkontakt, Zeigen auf die Dinge und Benennen, Ausbilden von Objektkonzepten, erfolgreiches Auffordern, Lernen der Regularitäten des Sprecherwechsels sind wichtige Entwicklungsschritte.
Die einzigartige Komplementarität im Diskursverhalten von Bezugspersonen und Kindern, die sich auch kulturübergreifend nachweisen lässt, treibt den Spracherwerb in der Anfangsphase stark an. Die Entwicklung der Kinder wird durch leichtes Überziehen ihrer Kompetenzen in die nächste Entwicklungszone vorangebracht. Tomasello liefert Belege für eine kritische Phase mit 9 Monaten, in der Kinder beginnen, sich als Teil einer zweckvoll handelnden Mitwelt zu begreifen:

"Aufgrund der Identifikation des Kindes mit anderen führt die Erfahrung ihrer eigenen Intentionalität neun Monate alte Säuglinge zu der Einsicht, daß andere Personen intentionale Akteure sind wie sie selbst. Das schafft dann die Möglichkeit, daß sie kulturelle Lernprozesse durch diese anderen Personen vollziehen können. (...) Um die Verwendung eines kommunikativen Symbols in einer konventionell angemessenen Weise zu lernen, muß das Kind in einen Prozeß eintreten, den ich Imitation durch Rollentausch genannt habe. Das bedeutet, daß das Kind lernen muß, ein Symbol gegenüber dem Erwachsenen auf dieselbe Weise zu gebrauchen, wie es der Erwachsene ihm gegenüber gebraucht."
(Tomasello 2003, S.111; 127)

Ähnlich hat dies schon der geniale russische Psychologe Wygotski (1896-1934) gesehen, für den Denken verinnerlichtes Sprechen ist und in kindlichen Selbstgesprächen eine Basis hat. Sprache entsteht aus dem Bedürfnis nach einem Mittel sozialer Kommunikation.

"Nur wenn man die individuelle Sprache als Teil des Dialoges, der Zusammenarbeit, der Kommunikation betrachtet, erhält man den Schlüssel zum Verständnis ihrer Veränderungen."
(Wygotski 1987: 225)

In jüngerer Zeit hat der Psychologe Bruner die Sprachentwicklung aus der Interaktion mit Bezugspersonen heraus begründet und auf empirischer Basis ein dialogisches Unterstützungsmodell skizziert. Zu welch komplexem Leistungen ein Kind mit fünf Jahren in der Lage ist, zeigt ein Erzählbeispiel, das in der üblichen Partiturschreibweise notiert ist (die Fläche entspricht der Zeitachse).
Nicht zufällig ist die Erklärung des Spracherwerbs Prüfstein jeder Sprachtheorie. Die Sprachentwicklung zeigt, was Sprache für den Menschen bedeutet. Sprache und Denken bilden einen engen Zusammenhang. Wygotski weist darauf hin,

"daß bei der Aneignung eines neuen Wortes der Entwicklungsprozeß des entsprechenden Begriffes nicht ztu Ende ist, sondern erst beginnt. (...) Die Entwicklung des Sinngehalts der Sprache erweist sich hier wie überall als der entscheidende Prozeß in der Entwicklung des Denkens und der Sprache des Kindes. (...)
Daher eignen sich das Denken und die Sprache als Schlüssel zum Verständnis der Natur des menschlichen Bewußtseins. (...) Das Bewußtsein spiegelt sich im Wort wie die Sonne in einem Wassertropfen."
(Wygotski 1969, S.290; 358f.)

Spracherwerb

Wortschatzerwerb

 

Literaturhinweise:

J.S. Bruner (1987) Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber

W. und J. Butzkamm (1999) Wie Kinder sprechen lernen. Tübingen: Francke
[allgemein verständlich]

G. Klann-Delius (1999) Spracherwerb. Stuttgart: Metzler
[Forschungsbericht]

M. Tomasello (2003) Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denken. Frankfurt: Suhrkamp

M. Tomasello (2003) Constructing a language. Cambridge: Harvard University Press

L.S. Wygotski (1969) Denken und Sprechen. Frankfurt: S. Fischer

L.S. Wygotski (1987) Ausgewählte Schriften. Bd. II. Berlin: Volk und Wissen

Weitere Literatur: Erspracherwerb

Weitere Literatur: Zweitspracherwerb

 

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